Exponentielles Wachstum, Ausbreitungsszenarien, Verdopplungszeiten: In den Berichten über die Corona-Epidemie steckt viel Mathematik. Der Modellierer Thilo Gross vom Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB) erläutert in einem Gastbeitrag, was sich dahinter verbirgt.
„Die Welt, in der wir leben, wird immer vernetzter. Als Folge davon kann der Ausbruch einer Krankheit in China das Leben in Deutschland binnen weniger Wochen zum Erliegen bringen. Die genaue Ausbreitung eines Virus ist hoch kompliziert, aber in jedem komplexen System gibt es einfache Wahrheiten, die wir mit ein wenig einfacher Mathematik verstehen können. Zum Beispiel die so genannte Superübertragung – also das Phänomen, dass einzelne Ereignisse oder Personen besonders stark zur Verbreitung beitragen.
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Wie schnell sich eine Epidemie ausbreiten kann, hängt von der Zahl der Kontakte zwischen Paaren von Menschen ab. Treffen sich mehr als zwei Leute gleichzeitig, erhöht sich die Zahl der Kontakte entsprechend. Wenn sich etwa drei Personen A, B und C zum Skatspielen treffen, so heißt dies: A trifft B, B trifft C und A trifft C. Es finden also drei paarweise Kontakte statt. Bei einer Geburtstagsfeier, bei der 20 Personen anwesend sind, trifft jede der 20 Personen die anderen 19, es kommen also 380 Kontakte zustande.
Quadratischer Anstieg
Mathematisch können wir sagen, dass die Zahl der Kontakte quadratisch mit der Zahl der Teilnehmer einer Veranstaltung steigt. Aufgrund dieses quadratischen Anstiegs tragen große Veranstaltungen überproportional zur Verbreitung einer Krankheit bei. Die gleiche Logik lässt sich zwar nicht auf sehr große Veranstaltungen übertragen. Bei einem Fußballspiel mit 50.000 Zuschauern können wir nicht davon ausgehen, dass jeder Kontakt mit den anderen 49.999 hat. Trotzdem kommt bei solchen Großveranstaltungen eine außerordentlich große Zahl von Kontakten zustande. Sie können zu sogenannten Superspreading-Ereignissen werden, bei denen das Virus auf sehr viele Menschen übertragen wird. Auch Flugreisen, bei denen sich viele Menschen über längere Zeit nah beieinander befinden, können leicht zum Superspreading führen.
Dass es im Verlauf einer Epidemie zu solchen Superspreading-Ereignissen kommen kann, ist zunächst eine schlechte Nachricht. Allerdings birgt diese Erkenntnis auch eine Chance, die Verbreitungsgeschwindigkeit einer Krankheit erheblich zu reduzieren – wenn es nämlich gelingt, Superspreading zu vermeiden. Wer beispielsweise seine Geburtstagsfeier mit 20 Gästen absagt, nimmt dem Virus auf einen Schlag 380 mögliche Verbreitungswege.
Erhöhtes Infektionsrisiko
Superspreading passiert jedoch nicht nur bei großen Veranstaltungen. Auch Personen, die besonders viele Kontakte haben, können zu „Superverbreitern“ werden. Gerade in der Anfangsphase der Epidemie, wenn es erst wenige Infizierte oder bereits immune Personen gibt, steigt das Risiko, infiziert zu werden, proportional zur Zahl der Kontakte. Personen mit vielen Kontakten werden also besonders schnell infiziert. Gleichzeitig können aber gerade diese Personen das Virus auch an besonders viele Personen weitergeben. Es ergibt sich wiederum ein quadratischer Effekt.
Zum Beispiel hat eine Person, die täglich 50 Kontakte hat, in der Anfangsphase der Epidemie ein 50-fach höheres Risiko, infiziert zu sein, als eine Person, die täglich nur einen Kontakt hat. Zugleich kann eine Person mit 50 täglichen Kontakten das Virus auch an 50 Menschen weitergeben. Die Effekte multiplizieren sich. Das bedeutet: Die Person mit 50 täglichen Kontakten trägt 2500-mal mehr zur Verbreitung des Virus bei, als die Person mit nur einem täglichen Kontakt.
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Vorhersage menschlichen Verhaltens
Das Beispiel des Superspreading zeigt: Selbst in unserer immer komplexeren Welt lassen sich einige Phänomene mit ein wenig einfacher Mathematik verstehen. Das liegt zum einen daran, dass sich Viren von Mensch zu Mensch verbreiten – und damit auf einer Skala, die uns intuitiv zugänglich ist. Zum anderen benötigt man nur wenige Kennzahlen, um die Ausbreitung zu verstehen, etwa die Verdopplungszeit. Wenn wir diese kennen, müssen wir die komplexen biologischen Details des Virus erst einmal nicht verstehen, um die Zahl der Infizierten vorhersagen zu können.
Dass die Vorhersage der zukünftigen Zahl von Infizierten dennoch schwierig bleibt, liegt nicht so sehr an der Epidemie selbst, sondern daran, dass Menschen und Politik auf die Epidemie reagieren. Es ist einfach vorherzusagen, wie sich eine Epidemie verbreitet, wenn es keine Gegenmaßnahmen gibt. Sehr viel schwerer ist vorherzusehen, welche Gegenmaßnahmen tatsächlich ergriffen werden – und wie sich diese wiederum auswirken.
Die Gesellschaft als Netzwerk
Eine Möglichkeit, die Wirkung verschiedener Gegenmaßnahmen zu untersuchen, besteht darin, die Gesellschaft als Netzwerk zu verstehen, das sich als Reaktion auf die Krankheit verändert. Die Netzwerktheorie ist ein Zweig der Wissenschaft, der sich in den 1990er Jahren entwickelt hat. Sie betrachtet zum Beispiel Bereiche des täglichen Lebens wie den Finanzmarkt, das Internet oder die gesamte Gesellschaft als Netzwerk mit zahlreichen Knotenpunkten. Diese Sichtweise erlaubt es, komplexe Systeme, die vorher schwer zu modellieren waren, mit mathematisch-physikalischen Methoden zu untersuchen.
Mit der Netzwerktheorie lässt sich beispielsweise erklären, wie sich die Globalisierung auf die Ausbreitung von Krankheiten auswirkt: Im Mittelalter, als sich Krankheiten nur mit der Geschwindigkeit eines Reiters oder eines Segelschiffes verbreiten konnte, traten Krankheiten wie die Pest in Wellen auf. In der heutigen Welt können sich Infektionskrankheiten mit der Geschwindigkeit von Verkehrsflugzeugen verbreiten, und erreichen so schnell die ganze Welt. Epidemiewellen gibt es daher kaum noch. Stattdessen kann es zu globalen Pandemien kommen, die in allen Ländern der Welt fast zeitgleich ablaufen.
Die Netzwerkforschung zeigt außerdem, dass uns solche Pandemien selbst dann nicht erspart bleiben, wenn wir den Flugverkehr auf einen Bruchteil seines heutigen Volumens zurückfahren würden. Schon die Existenz sehr weniger Langstreckenverbindungen reicht aus, um die Welt dicht genug zu verknüpfen, damit sich Infektionskrankheiten schnell global verbreiten können.
Einen Lichtblick gibt es jedoch: Durch die stärkere Verknüpfung der Welt wird der Verlauf von Pandemien vorhersagbarer, und mit Hilfe der Mathematik komplexer Netzwerke lassen sich Krankheitsausbrüche immer besser verstehen. Wir können verschiedene Szenarien betrachten, und wenn der gesellschaftliche Wille dazu besteht, frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen. Noch müssen wir lernen, diesen neuen Erkenntnissen zu trauen und entsprechend zu handeln.“