Literarische Erzählungen eröffnen Laien eine neue Sicht auf naturwissenschaftliche Forschung. Der Anglist Anton Kirchhofer analysiert, wie Romane überkommene Stereotypen und Vorurteile überwinden und damit die Rolle der Naturwissenschaften in unserer Gesellschaft deutlich machen.
Klimawissenschaften, Genetik oder Quantenmechanik – sich mit solchen Forschungsthemen auseinanderzusetzen, war für Prof. Dr. Anton Kirchhofer, Experte für Englische Literaturwissenschaften, vor einigen Jahren wie ein „Sprung ins kalte Wasser“. Doch inzwischen betrachtet er die Arbeit mit Wissenschaftsromanen als „sehr bereichernd“: Der 55-Jährige ist einer der leitenden Wissenschaftler im Projekt „Fiction meets Science“. Zusammen mit Literatur- und Sozialwissenschaftlern aus Oldenburg, Bremen und Hamburg untersucht Kirchhofer, wie Romane naturwissenschaftliche Themen aufgreifen und das Leben und Wirken von Wissenschaftlern im gesellschaftlichen Kontext widerspiegeln. Eine Forschung, die Kirchhofer für sehr wichtig hält, denn naturwissenschaftliches Wissen spiele in unserer Gesellschaft eine immer größere Rolle. „Die Romane eröffnen der Öffentlichkeit einen völlig neuen Blickwinkel auf die Naturwissenschaften“, sagt er. Sie zeigen etwa, welche Rolle die Geschlechterverteilung spielt oder wie der Labor-Alltag von Forschern aussieht.
In dem von der VolkswagenStiftung geförderten Vorhaben arbeiten die Partner auch mit Autoren und Naturwissenschaftlern zusammen – und diskutieren in Workshops über einzelne Romane aus ihren unterschiedlichen Perspektiven. Etwa über das unveröffentlichte Manuskript eines Wissenschaftsromans der Autorin Pippa Goldschmidt. Als „writer in residence“ hatte die Britin vor einiger Zeit neun Monate am Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK) in Delmenhorst verbracht. „Wir möchten so einen wirklichen Dialog zwischen Naturwissenschaftlern, Autoren, Literaturwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern herstellen“, erläutert Kirchhofer. Gerade diese Verschränkung zwischen akademischer Forschung und praktischer Arbeit mit den Romanen mache das Projekt so einzigartig, ergänzt Goldschmidt.
Kluft zwischen den akademischen Disziplinen
Der Wunsch nach einem Dialog kommt nicht von ungefähr. Noch in den 1990er Jahren stritten sich Naturwissenschaftler und Geistes- und Sozialwissenschaftler darüber, ob oder wie sehr naturwissenschaftliches Wissen sozial konstruiert ist. Diese „science wars“ sind zwar Vergangenheit. Doch auch Kirchhofer glaubt, dass die Kluft zwischen den akademischen Disziplinen noch nicht vollständig überwunden ist. Hingegen hätten die seit dieser Zeit entstandenen Wissenschaftsromane den Kriegszustand gar nicht beachtet und Differenzen kreativ überwunden, sagt der Literaturwissenschaftler. An diese Kreativität der Romane wollen die Forscher anknüpfen.
Seit Projektbeginn im Jahr 2014 haben Kirchhofer und seine Kollegen dutzende moderne angloamerikanische Wissenschaftsromane aus verschiedenen Perspektiven durchleuchtet. Die Literaturliste des Projekts umfasst mehr als 250 Titel – und wird ständig länger. Unter anderem hat Kirchhofer analysiert, wie Autoren ihre Romanfiguren charakterisieren – etwa, wie die Charaktere in die Struktur des Romans eingebettet sind oder in welchen Konstellationen sie handeln. Den „Mad Scientist“, den verrückten Wissenschaftler, oder den Forscher, der à la Dr. No die Weltherrschaft an sich reißen will, haben die Literaturwissenschaftler dabei vergeblich gesucht.
Romanfiguren menschlich dargestellt
Im Gegenteil: „Die Romane zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein realistisches Bild geben, das nicht auf klassische Stereotypen abhebt“, sagt Kirchhofer. Die Figuren seien oft komplexe Individuen mit persönlichen Beziehungen und Konflikten. Der Literaturwissenschaftler sieht dies als Vorteil: „Die Leser können sich besser mit den Figuren identifizieren, wenn sie nicht klischeehaft sondern menschlich und glaubhaft dargestellt sind.“ Zudem fänden sich gerade die naturwissenschaftlich geprägten Leser in den Büchern wieder, weil die Perspektiven ihnen vertraut sind.
Je nach Disziplin konnten die Forscher auch typische Figuren herausschälen, etwa für die Genetik, Neurowissenschaften oder Klimaforschung. So zeigten die Geschichten über Genetiker häufig Wissenschaftler, die mit einer genetischen Entdeckung persönliche oder soziale Probleme lösen wollen. „Aber das geht am Ende immer schief“, weiß Kirchhofer. Für ihn verbindet sich damit eine nachvollziehbare und bedenkenswerte Botschaft, nämlich „dass wir soziale Probleme mit sozialen Mitteln lösen müssen und nicht von der Genetik erwarten können, dass sie diese lösen kann.“
Forschen und Zweifeln gehören zusammen
Kirchhofer und sein Team haben auch untersucht, wie die literarischen Werke bei Rezensenten ankommen – sowohl bei klassischen Literaturkritikern als auch bei denjenigen, die die Romane für Fachzeitschriften wie „Nature“ rezensieren. Dabei zeigte sich, dass zwar alle ähnliche Fragen stellen, etwa ob die Handlung einer Erzählung plausibel ist. „Die Fachrezensenten wollen aber vor allem wissen: Ist unsere Wissenschaft akkurat dargestellt?“, erläutert der Anglist. Auch seien diese natürlich für wissenschaftsinterne Aspekte der Romane sensibel, etwa wie sehr Geldgeber die Richtung bestimmter Disziplinen bestimmen, welche Theorien miteinander wettstreiten oder welche Ergebnisse widersprüchlich sind.
„Das sind Themen, die Wissenschaftlern unter den Nägeln brennen“, sagt Kirchhofer. Doch oft sei dies in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Im Gegensatz zur wissenschaftsinternen Kommunikation etwa in Fachzeitschriften, aber auch in den Kaffeepausen auf Kongressen, die Laien ausschließt, erlaubten die Romane einen Blick in die „Black Box“ – die unbekannte Wissenschaftswelt. Und hier könnten die fiktionalen Geschichten etwas sehr Wichtiges zeigen, betont er: „Dass Wissenschaft nicht in erster Linie Wahrheiten produziert, sondern Fragen und Zwischenstände, dass Forschen und Zweifeln zusammengehören.“