In einer bundesweiten Kooperation haben Chemiker eine neuartige, vielversprechende Kohlenstoff-Verbindung hergestellt und analysiert. Den Grundbaustein liefert eine Oldenburger Arbeitsgruppe für Organische Chemie.
Ein neues Wundermaterial? „Das wäre schön“, sagt Prof. Dr. Gerhard Hilt schmunzelnd. So viel steht fest: Die neuartige Kohlenstoff-Verbindung, die der Oldenburger Chemiker sowie Wissenschaftler aus Marburg, Gießen und Erlangen in Kooperation hergestellt, analysiert und beschrieben haben, ist laut Wissenschaftsmagazin Nature ein „Cousin“ des nobelpreisgekrönten Graphen und verspricht ebenfalls spannende Eigenschaften zu haben. „Welche veränderten elektronischen oder anderen Eigenschaften es sein mögen, wissen wir noch nicht genau“, betont Hilt, dessen Fachgebiet die Organische Chemie ist, also chemische Verbindungen, die auf Kohlenstoff basieren. „Fürs Erste haben wir auf einer Fläche von einem Quadratzentimeter eine kleine Menge hergestellt, da liegt noch ein weiter Weg vor uns. Aber der Anfang ist gemacht!“
Der Weg zu dem sogenannten Azulen-Polymer, von dem die Rede ist, begann mit einem blaugrünen Pulver, das Hilt am Ende einer Arbeitswoche mit auf den Heimweg vom Campus Wechloy nach Marburg nahm. Mit seinem dortigen Kollegen Prof. Dr. Michael Gottfried aus der Physikalischen Chemie arbeitet Hilt auch drei Jahre nach seinem Wechsel nach Oldenburg weiterhin eng zusammen. „Gelegentlich bringe ich ihm das eine oder andere Pülverchen im Zug mit“, berichtet er augenzwinkernd. In diesem Fall handelte es sich um Azulen. Die blaugrüne Substanz besteht aus zehn Kohlenstoff- und acht Wasserstoffatomen (C10H8), genau wie das farblose Naphtalin – Inhaltsstoff von Großmutters Mottenkugeln und zugleich Grundbaustein von Graphen – aber minimal anders angeordnet: Während Naphtalin aus zwei miteinander verbundenen Sechsecken besteht, sind es beim Azulen ein Fünf- und ein Siebeneck, ebenfalls mit einer gemeinsamen Seite.
Aus Molekülketten entstehen Nanobänder
2004 glückte es erstmals, viele Kohlenstoff-Sechsringe in einer Schicht zu einem großen Molekül zusammenzufügen. Dem so erzeugten Stoff, Graphen, wird nachgesagt, es sei mehr als hundertfach so zugfest wie Stahl und so leitfähig wie Silizium, dabei als zweidimensionale Kohlenstoffverbindung extrem dünn und leicht, biegsam und transparent. Gottfried, Hilt und ihre Mitstreiter wollten ähnliche Strukturen aus Fünf- und Siebenringen erzeugen. Solchen großen Molekülstrukturen, so genannten Polymeren, waren in der Theorie bereits exotische Eigenschaften vorhergesagt worden, doch noch niemandem war die Herstellung gelungen. Denn aus den Fünf- und Siebenecken wurden beim Erhitzen stets die stabileren Kohlenstoff-Sechsringe.
Den Grundbaustein Azulen für das Polymer steuerte Hilt bei. Die Aufgabe seines Teams war es, Azulen in möglichst hoher Reinheit zu synthetisieren. Aus dem in Oldenburg entstandenen Ausgangsstoff Dibromazulen, also Azulen mit zwei Brom-Atomen je Molekül, synthetisierten wiederum die Marburger Chemiker auf einer Goldoberfläche in einer Hochvakuum-Apparatur zuerst Ketten aus Kohlenstoff-Fünfringen und -Siebenringen.
Ein Highlight für die Fachwelt
„Durch sehr vorsichtiges Erhitzen der Oberfläche werden die Ketten miteinander verknüpft. Die so erzeugten Moleküle werden vom Gold angezogen und sind so groß und schwer, dass sie ungeachtet des Vakuums liegen bleiben“, erläutert Hilt. So entstanden aus den Ketten ganze Molekülbänder, sogenannte Nanoribbons. Die Forscher reizt es laut Hilt zwar auch, eine größere Fläche des neuen Materials zu schaffen – eine Herausforderung dabei sei aber genau das richtige Maß beim Erhitzen, damit am Ende eben nicht Graphen herauskomme.
Welche Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten das neue Kohlenstoff-Polymer verspricht, wird die Zukunft zeigen. Die Anwendungsideen für Graphen, das mit anderthalb Jahrzehnten Vorsprung auf den Plan trat, reichen von rasend schnellen Computer-Transistoren, ungeahnt lange währenden Telefonakkus und flexiblen, transparenten Displays bis hin zu extrem hochempfindlichen biochemischen Sensoren etwa für Sprengstoffe. Noch ist es allerdings nicht im industriellen Maßstab herstellbar. Beim Azulen-Polymer ist die Forschung von einer Anwendung ebenfalls noch weit entfernt.
Doch die Veröffentlichung von Gottfried, Hilt und ihren Kollegen aus Gießen und Erlangen hat die Fachwelt zumindest aufhorchen lassen: Der Aufsatz im Journal of the American Chemical Society wurde nicht nur von Nature als Highlight aufgegriffen, sondern auch binnen weniger Wochen mehr als 3.000-fach heruntergeladen.