Darwin & Linné

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Gespräch im Garten

Ein Dialog zwischen Charles Darwin und Carl von Linné 

 

Zu Ehren von Gerhard Winkel (1926-2009), dem großen Umwelterzieher und Gründer des Biologiezentrums Hannover anlässlich seines 70. Geburtstages dokumentiert von Ulrich Kattmann 
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Rotschwanz In den Ritzen zwischen den großzügig verlegten Steinplatten der Gartenterrasse sproß eine reiche Flora aus Rispengräsern, Vogelknöterich und Spergelkraut. An den Rändern waren hingewehte Samen des Großen Weidenröschens gekeimt, und die emporgeschossenen Pflanzen standen nun in voller Blüte. Einige entließen bereits ihre haarigen Samen in den leichten Sommerwind, der sie Federn gleich davontrug. Ein schwarzer Laufkäfer rannte quer über die Terrasse und verschwand im gegenüberliegenden Kräutergewirr. Die beiden Herren saßen entspannt in den etwas unbequemen Stühlen am Holztisch unter den alten Obstbäumen und genossen die Wärme des Nachmittages. Die Ruhe wurde durch das leise Summen in der Luft untermalt, das zahlreiche fliegende Insekten zur Stimmung beitrugen. Behoste Honigbienen suchten die Blüten des Weidenröschens nacheinander ab, während einige Erdhummeln die großen Rachen des Gartenfingerhuts anflogen.

Charles Darwin blinzelte in die Sonne, sah in den blauen Himmel des strahlenden Hochsommertages und versuchte den Gartenrotschwanz zu erblicken, der auf der höchsten Spitze des Birnbaumes schon einige Zeit seine kurze Strophe sang, entdeckte aber nur eine Blaumeise, die in den Zweigen turnte, an Knospen pickte und einen hellen zarten Triller erklingen ließ. Schließlich schaute er sein Gegenüber mit klarem Blick an und seufzte:
"Wenn ich diese bezaubernde und idyllische Szene betrachte, dann ist es mir herzlich egal, wie all dieses Getier und diese Vögel entstanden sind." 2

Carl von Linné schreckte aus seinen Gedanken hoch, sah Darwin erstaunt an, zog nachdenklich an seiner Pfeife, verfolgte den aufsteigenden blauen Rauch mit seinen Augen und meinte schließlich immer noch nach oben blickend:
"Was hindert Sie, mit der Natur den Schöpfer zu bewundern?"

"Das Wirken der Natur ist plump, verschwenderisch, stümperhaft niedrig und entsetzlich grausam.3 Man mag daran zweifeln, wenn man den friedlichen Anblick dieses Gartens oder einer prächtigen Landschaft vor sich hat. Und doch ist es nur zu wahr, daß in der Natur ein unablässiger Kampf herrscht. Oftmals ist dieser Kampf das Los von Ei und Samen, von Sämlingen, Larven und Nachkommen, doch er ist unabwendbar das Los eines jeden Wesens im Verlauf seines Lebens oder - häufiger - in größeren Zeiträumen das Los folgender Generationen."4

"Das kann man auch anders sehen", wandte Linné ein. "Was uns grausam erscheint, zeigt an, daß alle Wesen aufeinander angewiesen sind: Der allmächtige Schöpfer hat alles auf unserem Erdballe in einer so wunderbaren Ordnung eingerichtet, daß nicht ein einziges gefunden wird, das nicht des Beistandes eines anderen bedürfte. Der Erdball selbst mit seinen Steinen und Erzen und Sanden bekommt seine Nahrung und seinen Unterhalt von den Elementen. Die Gewächse, Bäume, Kräuter, Gräser und Moose haben ihr Wachstum von dem Erdballe und die Tiere endlich von den Gewächsen. Diese werden am Ende wieder in ihre ersten Stoffe verwandelt, die Erde wird eine Nahrung für die Pflanzen, die Pflanzen für die Würmer, die Würmer für die Vögel und die Vögel oft für die Raubtiere: Am Ende wird das Raubgetier wieder von den Raubvögeln, die Raubvögel von den Würmern, die Würmer von den Kräutern, die Kräuter von der Erde verzehret: Ja, der Mensch, dem alles zu seiner Notdurft dienen muß, wird oft die Nahrung des Raubtieres, des Raubvogels, des Raubfisches, des Wurmes oder der Erde. So gehet alles in einem Kreise herum." 5

Darwin lächelte nachsichtig, das Aufblitzen seiner Augen verriet leichten Spott:
"Nun erinnern Sie mich fast an die Ausführungen von William Paley zur zweckmäßig konstruierten Natur." 6

"Charley, glauben Sie wirklich, daß Carolus Linnaeus die Naturtheologie von William Paley gelesen hat?"
Linné war nun engagiert in das Gespräch eingestiegen, was er mit der vertraulichen Anrede verriet, und er war in seiner Eitelkeit getroffen, wodurch seine Gewohnheit hervortrat, von sich in der dritten Person zu reden:
"Kein Naturwissenschaftler hat mehr Beobachtungen in der Natur gemacht, keiner hat solidere Einsicht in alle drei Reiche der Natur gehabt als er, keiner mehr Werke geschrieben, richtiger, ordentlicher und aus eigener Erfahrung, keiner eine ganze Wissenschaft so total reformiert und eine neue Epoche eröffnet." 7

Darwin spürte, daß es zum Streit kommen könnte, und lenkte vorsichtshalber ein:
"Sir Carl, nach langem Ringen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß Kampf und Konkurrenz die Natur beherrschen. Am schärfsten konkurrieren die Angehörigen derselben Art miteinander, die dasselbe Gebiet bewohnen, dasselbe Futter verlangen und denselben Gefahren ausgesetzt sind, wie es auch in der englischen Gesellschaft zwischen den Menschen verschiedener Klassen zu beobachten ist."
Darwin hatte Linné mit dem Adelstitel angeredet, um ihm zu schmeicheln, wobei ihm schmerzlich bewußt wurde, daß ihm selbst die erhoffte gleichartige Ehrung verwehrt geblieben war. Immer noch auf Kompromisse bedacht fuhr er fort:
"Allerdings habe ich von Anfang an, seit ich begann meine Theorie zu veröffentlichen, unmißverständlich betont, daß ich den Ausdruck 'Kampf ums Dasein' nur in metaphorischer Bedeutung gebrauche, die - ganz in Ihrem Sinne - die Abhängigkeit der Wesen voneinander einschließt. Mit Recht kann man daher sagen, daß zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung miteinander kämpfen, man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre, obwohl man das ebenso gut so ausdrücken könnte: Sie hängt von der Feuchtigkeit ab. Der Kampf ums Dasein erfolgt also keineswegs nur mit Zähnen und Klauen. Sogar förderliche Beziehungen sind in ihm eingeschlossen: Da der Samen der Mistel durch Vögel verbreitet wird, so hängt ihr Dasein von diesen ab. Bildlich gesprochen kämpfen die Misteln mit anderen fruchttragenden Pflanzen darum, die Vögel dazu zu bringen, ihre Samen zu fressen und zu verstreuen." 8

"Einen Kampf ohne Waffen lasse ich mir gefallen. Er gleicht eher einem Liebesspiel", spöttelte nun Linné (wobei er kaum ahnte, welch empfindliche Seite in Darwins Theorie er berührte). "Schauen Sie sich die Libellen an. Sobald ein Männchen seiner Liebsten gewahr wird, packt er sie mit der Zange seines Hinterleibes um den Hals. Sie folgt gezwungen nach und, um ihn von sich zu stoßen, biegt sie ihren Hinterleib krumm unter sich an die Brust des Männchens, gerade dahin, wo Venus dessen Liebespfeile verborgen hat und wird also mit Gewalt gleichsam ohne Gewalt überwunden.9 Sie scheinen mir doch sehr von der Idee des Kampfes voreingenommen."
HummelBeim letzten Wort verzog Darwin schmerzlich das Gesicht, denn nichts wog für ihn in der Wissenschaft schwerer als der Vorwurf der Voreingenommenheit. Doch Linné fuhr unbeirrt fort:
"Man sollte auf den Nutzen schauen, den die Natur überall hervorkehrt. Die Mistel muß klebrige Früchte hervorbringen, die den Vögeln zum Fraße dienen. Die Vögel müssen sich die Schnäbel vom klebrigen Safte säubern, damit die Samen sicher am nächsten Baum abgestreift werden und dort im Licht wachsen können: Es ist also jedes Geschaffene nicht bloß um seiner selbst willen, sondern fast mehr um andrer willen geschaffen: Das Schwein und der Igel pflügen die Erde. Die Maulwürfe werfen die Erde auf, damit Gras und Kräuter sich leichter in ihr säen können. Die Hähne erwecken uns am frühen Morgen, der Kuckuck und die Lerche wie gerade auch der Gartenrotschwanz, am Tage. Die Amsel am Morgen und am Abend. Die Nachtigallen singen uns des Nachts vor. Die Fische müssen vom sicheren Grunde des Meeres alle Jahre zu den unsicheren Ufern ziehen und in die Flüsse hinaufsteigen, damit sie haufenweise von Tieren, Vögeln und uns gefangen werden. Die Seidenwürmer spinnen so lange Fäden, mit denen wir uns kleiden mögen. Die Honigbienen, wie sie hier um uns summen, saugen mit so großer Mühe den Honig für unsere leckere Zungen zusammen. Selbst das Meer muß durch Ebbe und Flut Haufen von Schnecken, Austern und Hummern ans Ufer werfen, alles zum Dienste der Menschen und Tiere.10 Das Frauenhaarmoos ist weich und fällt nicht zu einer harten Unterlage zusammen, wenn man eine Matte aus dem Boden heraussticht. So hat die Natur dem Menschen alles im Überfluß gegeben und ihn so gut versorgt, daß ihm nichts fehlt, und ihm sogar in der wüsten Einöde noch Bettzeug gegeben. Der Mensch muß allerdings vielerlei Nutzen erst entdecken, um ihn für sich zu sichern. Auf meiner Reise nach Lappland fand ich zum Beispiel Wälder voller großer Kiefern, die ganz nutzlos herumstanden, denn niemand macht Häuser aus ihnen. Die Bäume fallen um und vermodern. Auf meinen Reisen habe ich erkannt, daß die ganze Ökonomie eines Landes sich auf die Kenntnis der natürlichen Körper der drei Reiche 'Tiere,' 'Pflanzen' und 'Steine' stützet. Ohne solche Kenntnis arbeiten die Ökonomen umsonst, dem Lande aufzuhelfen." 11

Darwin dachte eine Weile nach. Die Tätigkeiten, mit denen Menschen die Natur nutzen, waren ihm vertraut und sympathisch. Doch der Vorwurf der Voreingenommenheit hatte ihn getroffen. Endlich entschloß er sich, den Kern des Problems anzugehen und seinem Gegenüber - in gebotener Höflichkeit - seine wahren Gedanken anzuvertrauen:
"Der Vorstellung, daß die Natur von Anbeginn an vollkommen und zweckmäßig eingerichtet ist, kann ich seit einiger Zeit nichts mehr abgewinnen.12 Ich neige dazu, daß die Angepaßtheiten, die wir bei den Lebewesen bewundern, das Ergebnis von lang andauernden Prozessen darstellen, in denen sie ihrer jeweiligen Umwelt und Lebensweise angepaßt worden sind."

"Wie soll man sich das vorstellen?" unterbrach Linné. "Wie sollen alle diese wunderbaren Anpassungen zustande kommen?"

"Das ist wirklich eine sehr schwer zu beantwortende Frage! Die Tatsachen, welche mich am längsten wissenschaftlich rechtgläubig gehalten haben, sind gerade solche, die die Anpassung betreffen.13 Ich bin nun aber durch zahlreiche Beobachtungen davon überzeugt worden, daß die Organismen nicht vollkommen angepaßt sind, sondern nur gerade eben vollkommen genug, um mit ihren Konkurrenten wetteifern zu können. Die Individuen einer Art neigen nämlich dazu, sich voneinander in leichten Abweichungen zu unterscheiden."14

Linné runzelte die Stirn: "Auch ich habe bemerkt, daß Arten in gewissem Umfang durch Umwelteinflüsse modifiziert werden können, so daß viele Formen, die von anderen Wissenschaftlern als Arten beschrieben worden waren, von mir als Varietäten erkannt wurden, wie z. B. die Form des Wassersterns, die sich beim Austrocknen einer Pfütze bildet, oder die hornlosen Kühe, bei denen ich aber Reste der Hörner unter der Haut nachweisen konnte.15 Vielleicht stammen die verschiedenen Arten einer Gattung von solchen Abwandlungen oder Kreuzungen her.16 Aber unbeschränkt können sich die Arten nicht wandeln. Solche Vorstellungen entspringen dem Aberglauben des Volkes. Mir wurde z. B. von einem seltsamen Baum berichtet. Man sagte, es sei ein Apfelbaum, den eines Tages eine bettelnde Trollfrau verhext habe. Diese hätte nämlich einen Apfel gepflückt und als der Besitzer sie zurechtwies, geflucht, der Baum werde nie wieder Äpfel tragen. Als ich zu der angegebenen Stelle kam, fand ich heraus, daß der besagte Baum nichts anderes war als eine Gemeine Ulme.17 Wären die Arten beliebig wandelbar, so wäre nichts mehr sicher. Ein harmloses Schaf könnte sich sogleich in einen brüllenden Löwen verwandeln. Solche Annahmen eröffnen das Feld für unzuverlässige und unzuträgliche Spekulationen. Ich rede nur von dem, was ich gesehen und untersucht habe. Bei meiner Arbeit habe ich dem Schöpfer über die Schulter geguckt. So ist es mir gelungen, die Geschöpfe in ein gültiges System zu bringen und damit ihr Wesen zu erfassen."18

Käfer"'Gott hat die Welt erschaffen, aber Linné hat sie geordnet', behaupten das nicht ihre Freunde und Feinde gleichermaßen? Sie scheinen selbst daran zu glauben", entgegnete Darwin, wobei er den in seinen Worten liegenden Spott durch den milden Ton seiner Worte aufhob.
"Die Verwandtschaft der Lebewesen erkläre ich mit gemeinsamer Abstammung. Die Abwandlung der Arten ist unbegrenzt. Aber ich behaupte nicht, daß sich ein Moos in eine Magnolie verwandeln kann oder ein Mollusk in einen Menschen.19 Die Transformation der Arten geschieht langsam und in sehr kleinen Schritten. Sie haben recht, das ist eine Hypothese, und sie war so lange nur spekulativ, bis ich zeigen konnte, aufgrund welcher Ursachen eine solche Abwandlung der Arten zustande kommen kann. Wenn Sie die gegenseitige Verwandtschaft der Lebewesen, ihre embryonalen Beziehungen, ihre geographische Verbreitung, ihre geologische Aufeinanderfolge und ähnliche Tatsachen bedenken, so könnten Sie wohl zu dem Schlusse kommen, daß die Arten nicht unabhängig voneinander erschaffen worden sind, sondern ähnlich den Varietäten von anderen Arten abstammen. Dennoch wäre ein solcher Schluß, wie gut er auch begründet sein mag, unbefriedigend, so lange nicht auch erwiesen wird, wie sich die unzähligen unsere Erde bewohnenden Arten abgeändert haben. Es ist daher von höchster Bedeutung, einen klaren Einblick in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Abänderungen und Anpassungen bewirkt worden sind. Ich war von Anfang an davon überzeugt, daß das Wissen über die Variation im Zustande der Domestikation den besten und sichersten Aufschluß hierüber geben wird.20 Bei der Zucht wird unter zufällig auftretenden Varietäten ausgewählt. Die große Macht des Prinzips der Zuchtwahl ist nicht hypothetisch. Es ist nämlich sicher, daß mehrere unserer besten Viehzüchter ihre Rinder- und Schafrassen erheblich veränderten. Die Züchter meinen sogar, daß sie die Organisation ihrer Tiere fast nach Belieben umformen können.21 Ich habe unter 15 Rassen der Haustaube Unterschiede gefunden, die denen von drei guten Gattungen und 15 ausgeprägten Arten entsprechen. Selbst ihre roten Blutkörperchen waren unterschiedlich geformt."22

"Woher nehmen Sie die Kühnheit, die Zuchtwahl des Menschen mit den Schöpfungen in der Natur zu vergleichen? Hier ist der auswählende Mensch und dort? Wer wählt in der Natur aus? Und wer legt die Zuchtziele fest, wenn wir Ihre Hypothese einmal als möglich annehmen?"

"Es gibt in dem von mir angenommenen Prozeß überhaupt kein Ziel. Unter den Abweichungen zwischen den Lebewesen werden gelegentlich auch solche sein, die für irgendeinen Teil ihrer Organisation vorteilhaft sind. Die Umweltbedingungen spielen für das Auftreten solcher Abweichungen keine Rolle. Die Varianten treten also zufällig, d. h. ungerichtet, auf. Es passiert einfach, daß sie nützlich sind. Wenigstens in einigen Fällen!"
Darwin sprach konzentriert, um die Sache auf den Punkt zu bringen:
"Individuen mit vorteilhaften Abweichungen werden eine größere Chance haben zu überleben und ihre neue, leicht abgewandelte Struktur zu vererben. Die weniger gut angepaßten Varietäten und Arten sterben dagegen allmählich aus. Ich nenne den Prozeß, bei dem die im Kampf ums Dasein relativ Tauglichsten bestehen, die natürliche Selektion. Ein Lebewesen - wie z. B. die Mistel - kann auf diese Weise einer großen Anzahl von Bedingungen der Lebensweise und der Umwelt angepaßt werden, indem die natürliche Zuchtwahl jene leichten Abwandlungen von Generation zu Generation anhäuft."23

"Ich sehe auch, daß es sehr wohl geschehen könnte, daß irgendeine Art sich so sehr vermehrte, daß sie alle anderen verdrängte. Nehmen wir z. B. an, daß jede Tabakpflanze im Jahr 40.320 Samen hervorbringen würde und daß niemand da wäre, der etwas davon verbrauchte, dann müßte eine solche Pflanze leicht alle anderen verdrängen. Aber das ist nur eine Spekulation. Durch eine einfache Überlegung komme ich zu dem Schluß, daß etwas derartiges nicht eintreffen kann, weil dadurch etwas zu existieren aufhören würde, was der allweise Schöpfer erschaffen hat Außerdem würden die gehörige Ordnung und das Gleichgewicht gestört werden. Wenn Sie die Kette der Natur verfolgen, dann sehen Sie, daß die Tiere in erster Linie zum Nutzen der Pflanzen geschaffen wurden und nicht - jedenfalls nicht in erster Linie - die Pflanzen für die Tiere. Ja ich wüßte nicht einmal, wie die Welt ohne Schaden bestehen sollte, wenn auch nur eine einzige Tierart auf ihr fehlen würde.24 Warum sollte ich nicht die Voraussicht des Schöpfers an seinen Geschöpfen erkennen?"

Darwin nahm eine Prise Schnupftabak, um seine Anspannung zu mindern. Religiöse Gespräche strengten ihn an.
"Ich kann mir nicht einreden, daß ein gütiger und allmächtiger Gott planmäßig und absichtlich die Schlupfwespen mit der ausdrücklichen Absicht geschaffen hat, daß sie Raupen bei lebendigem Leibe von innen her auffressen sollen. Dafür möchte ich Gott nicht verantwortlich machen.25 Es würde mich auch nicht trösten, wenn er dazu das Mittel der natürlichen Selektion benutzt hätte."

Linné lächelte über solchen Kleinglauben. "Nun reden Sie über etwas, von dem Sie zugegebenermaßen nichts wissen."

"Wie recht Sie haben! Ich bezeichne mich als Agnostiker und maße mir nicht an, wissenschaftlich etwas über die Pläne Gottes aussagen zu können. Es ist nicht notwendigerweise humaner, Gottes Existenz zu bezweifeln, nur weil dies rationaler erscheint. Vielleicht ist der Verstand nicht das einzige Instrument, um Wahrheit zu erkennen. Ich weiß es nicht.26 Aber in der Wissenschaft hat die Annahme vom Eingreifen Gottes in das Naturgeschehen keinen Platz. Mit göttlichen Absichten und gerichteter Evolution kommt der Wunderglaube in die Wissenschaft und verschleiert die Einsicht in natürliche Ursachen und Gesetze.27

"Mit bequemen und frommen Antworten darf man sich in der Wissenschaft wirklich nicht zufriedengeben. Sie erklären nichts, sondern verdecken oft nur die Ignoranz", stimmte Linné der letzten Aussage seines Gesprächspartners zu.
"Während meiner lappländischen Reise wunderte ich mich darüber, daß das Ren so geht, daß es bei jedem Schritt in seinem Fuß knackt. Als ich wiederholt die Einwohner frug, antworteten alle, der liebe Gott habe es so erschaffen. Auf meine Frage, wie der liebe Gott es denn so erschaffen habe, daß es immer knackt, waren sie mit ihrer theologischen Weisheit am Ende. Nicht aber Linnaeus! Ich ergriff ein Fußgelenk, zog, bog, streckte es, drückte es zusammen, hörte aber dennoch kein Knacken. Schließlich fand ich heraus, daß das Knacken von den Klauen kam, die innen hohl sind. Wenn das Ren steht, sind die Klauen auseinandergespreizt, sobald es aber den Fuß hebt, stoßen die Schalen der Klauen zusammen und verursachen das Knacken.28 Ich zweifele nicht daran, daß der allmächtige Schöpfer die Welt erschaffen hat und die Wissenschaft die Aufgabe hat, seine Gedanken zu erforschen."

Darwin nahm erneut eine Prise Schnupftabak. Sog ihn heftig ein und wartete die entspannende Wirkung ab. Auseinandersetzungen um die Religion führten ihm jedesmal die bedrückende Situation in seiner Ehe vor Augen. Was wäre ich ohne diese großartige Frau, dachte er. Aber die Religion stand zwischen ihm und seiner frommen Frau Emma.
"Ich habe immer vermieden, über Religion zu schreiben, und mich auf die Wissenschaft beschränkt. Ich empfinde keine Reue, wie es angebracht wäre, wenn ich irgendeine große Sünde begangen hätte. Ich glaube, daß ich richtig gehandelt habe, indem ich stets der Wissenschaft folgte.29 In der Formulierung meiner Einsichten war ich stets zurückhaltend, um Andersdenkende nicht zu verletzen. Ich habe mich auch nie so geschmacklos geäußert wie mein lauter deutscher Freund Ernst30 oder gegeifert wie meine bischofsfressende Bulldogge."31

"Sie waren anscheinend nicht in bester Gesellschaft", warf Linné ein.

Spinne"Ich konnte mir meine Zeitgenossen nicht aussuchen", brummelte Darwin.
"Ich brauchte Verbündete, auch wenn sie meine zentrale Hypothese von der Selektion nicht richtig verstanden haben.32 Die politisch Radikalen hingen zwar Evolutionsgedanken an, aber diskreditierten die Wissenschaft. Und natürlich auch meine gesellschaftliche Stellung als Gutsbesitzer. Ständig lief ich Gefahr, mich ins gesellschaftliche Abseits zu begeben. Sollte ich seriöse Wissenschaftler, die sich auf meine Seite schlugen, vor den Kopf stoßen? Anfangs waren alle wissenschaftlichen Positionen von klerikalen Geistern besetzt. 'Eine Fakultät voller Bischöfe ist des Teufels Blumengarten.33 Die schlimmsten Vorbehalte gegen meine Hypothese rührten von der Furcht, sie könne den Menschen entwürdigen. Lange Zeit habe ich es ängstlich vermieden, mich zur Abstammung des Menschen zu äußern, obwohl ich sie längst bedacht hatte. So habe ich in meinem Buch zur Artenfrage nur den einen Satz geschrieben: 'Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte!34 Aber die Kritiker des Buches haben sofort die ketzerische Schlußfolgerung gezogen, daß der Mensch als Zufallsprodukt nicht zugleich eine unsterbliche Seele haben könne. Die Art und Weise, wie die Unsterblichkeit in meine Theorie hineingezerrt und die Geistlichkeit gegen mich aufgebracht wurde, um mich ihrer Gnade zu überlassen, war niederträchtig. Sie wollten mich zwar nicht verbrennen, aber sie holten vorsorglich schon das Holz zusammen und sagten den Schwarzröcken, wie sie mich packen können.35 Man warf mir vor, den Menschen zu sehr in die Nähe zu den Menschenaffen gerückt zu haben. Bis heute hält man das für eine Kränkung der Menschheit - die größte seit Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt des Kosmos entfernte."36

"Woher kommt solche Empfindlichkeit? Ich habe lange vor Ihnen in meinem System der Natur den Menschen zusammen mit den Affen in eine Ordnung gestellt.37 Man braucht nur auf die klassischen Merkmale, die Zähne, Hände und Finger, zu schauen, um einzusehen, wie nahe wir mit Pavianen und anderen Affen oder gar einem Orang-Utan verwandt sind. Um naturgegebene Eigenschaften des Menschen zu verstehen, sollte man bei den Affen nachschauen."38

"Wer einen Pavian versteht, wird mehr für die Erkenntnis tun als unser größter Philosoph"39 stimmte Darwin nachdrücklich zu.
"Ihre scharfsinnige Klassifizierung des Menschen hat einigen Forschern nicht gefallen. Richardus, Rex anatomicorum,40 hat es sogar fertiggebracht, für den Menschen eine eigene Unterklasse der Säugetiere zu fordern, weil Menschen einen einzigartigen Gehirnlappen besäßen. Der Mensch unterscheide sich von einem Schimpansen so weitgehend wie dieser von einem Schnabeltier. Ich möchte bloß wissen, was ein Schimpanse dazu sagen würde.41 Das ist nur der voreingenommene Versuch, dem Schlusse zu entgehen, daß der Mensch wahrscheinlich von einer alten Untergruppe der Menschenaffen abstammt. Der Mensch sollte einen Orang-Utan im Zoo beobachten, seine ausdrucksvollen Klagelaute anhören, seine Intelligenz und seine Gefühle sehen, seine Wut, sein Schmollen und seine Verzweiflungstaten. Und dann sollte er - wie ich in Feuerland - einen Wilden anschauen, nackt und ungesittet, der keine Fortschritte macht, obwohl er dazu fähig wäre. Und dann soll dieser Mensch es wagen, sich noch einmal überheblich seiner Vorrangstellung zu rühmen.42 Es ist absurd, davon zu reden, daß ein Lebewesen höher stehe als ein anderes. Menschen betrachten diejenigen Tiere mit den entwickeltsten geistigen Fähigkeiten als die höchsten. Eine Honigbiene würde zweifellos die gemeinschaftlichen Brutpflegeinstinkte als Kriterium heranziehen.43 Die hier herumsummenden Insekten würden uns beide wohl kaum als die Krone der Schöpfung betrachten. Wenigstens fliegen sollten wir können!"

"Die kleinen Geschöpfe könnten uns Hochachtung lehren. Hier in diesen kleinen und von uns verachteten Geschöpfen können wir die größten Meisterstücke der Natur antreffen. Wir bewundern die scharfen Augen der Lüchse und Schlangen und der Eulen, die im Dunkeln sehen, aber wenige sehen die acht Augen der Spinnen in einem Kopfe oder die Augen der Bremsen und Libellen, von denen jede viele kleine Augen in dem größeren Auge bei sich hat. Wie gar wunderbar hat die Honigbiene ihre Haushaltung eingerichtet. Wie liebt eine Weisel so viele Männchen. Sie allein hat von ihrem Schöpfer das Privileg erhalten, welches kein anderes Weib genießet, daß der Wille der Männer ihr unterworfen sein soll. Wann wird einmal die Zeit kommen, die dem Menschen über alles diese kleine Getier die Augen öffnet?" 44

"Als ich mein Buch über die Wirksamkeit von Regenwürmern veröffentlichte, mit denen ich mich über 40 Jahre ernsthaft beschäftigt hatte, hielt man dies für eine unwürdige Marotte eines alten Mannes",45 erwiderte Darwin mit skeptischer Miene. "Obwohl ich diese Haltung bedaure, wird der Gedanke, daß der Mensch von irgendeiner niederen Lebensform abstammt, für viele äußerst widerwärtig sein.46 In der Evolution gibt es kein Ziel, keine vorherbestimmte Ordnung, kein sich selbst erhaltendes Gleichgewicht, und der Mensch ist ein von den Menschenaffen abstammendes Zufallsprodukt. 47 Selbst mein teurer Freund Thomas, der lieber einen Affen zum Großvater haben wollte als den Bischof von Oxford, 48 hat die Nähe von Mensch und Tieren unter diesen Umständen nicht gut ausgehalten. Er glaubte die Würde des Menschen zu retten, indem er behauptete, daß der Abstand zwischen den zivilisierten Menschen und den Tieren ein ungeheurer sei. Abstammung hin, Abstammung her, der Mensch sei schließlich kein Vieh. 49 Beachten Sie, daß meine ungewohnt zahme Bulldogge nur uns zivilisierte Menschen von den Tieren durch eine Kluft getrennt hat, mit der er die Sonderstellung des Menschen in der Natur begründete."

Linné zweifelte, ob er den Gedanken richtig erfaßt hatte. Wozu bedurfte es einer Sonderstellung in einer aufs beste eingerichteten Natur? 50
"Wenn wir erkennen, daß in der Ökonomie der Natur jedes Lebewesen nicht bloß für sich selbst, sondern für andere geschaffen ist, so können wir hieraus auch für den Menschen die Pflicht ableiten, daß er hauptsächlich mit dem Teile dienen muß, mit welchem er die anderen Tiere übertrifft. Unter den vierfüßigen Tieren hat keines ein so großes Gehirn erhalten wie der Mensch. Wir bekamen kein feines Gehör wie das wilde Schwein, doch lernten wir durch das Hörrohr genauer hören. Ist also das Gehirn und die Vernunft das Edelste, was Gott und die Natur dem Menschen gegeben haben, so müssen wir sie auch im Dienste für die anderen Geschöpfe und die Menschen brauchen und veredeln." 51

Darwin rutschte unruhig auf seinem Stuhl. Er fühlte sich mit zunehmender Länge des Gesprächs unwohl. "Der Mensch ist wohl zu entschuldigen, daß er einigen Stolz darüber empfindet, wenn er sich an der Spitze der ganzen organischen Stufenleiter sieht. Die Tatsache, daß er durch die Evolution dahin gelangt ist, statt von Anfang an dahingestellt worden zu sein, kann ihm die Hoffnung verleihen, in der fernen Zukunft eine noch höhere Bestimmung zu haben." Er beeilte sich hinzuzufügen: "Hoffnungen und Befürchtungen sind aber nicht Sache der Wissenschaft." 52
Der Fortschrittsglaube seiner Zeitgenossen hatte Darwin einen Augenblick lang eingeholt. Er wußte, daß es nach seiner Theorie keinen automatischen Fortschritt gab und aus ihr folgte, daß der Mensch in seiner Entwicklung auch scheitern konnte. Deshalb konnte der Gedanke an die zukünftige Evolution ihm keinen wirklichen Trost und keine sichere Hoffnung geben. Auch ahnte er nicht, welche für ihn unannehmbaren Vorstellungen und Taten mit seinen Worten verknüpft sein würden:
"Wenn es zu einem Fortschritt kommen soll, müssen dazu die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden. Im Kampf ums Dasein muß jedes Lebewesen seine Existenz im Wettbewerb um die Ressourcen behaupten. Das gilt auch für den Menschen. Es muß für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen, und es dürfen die Tauglichsten nicht durch Gesetze und Gebräuche daran gehindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Anzahl von Nachkommen aufzuziehen." 53
Darwin erhob sich schwerfällig aus dem Gartenstuhl und machte eine entschuldigende Geste:
"Ich bin nicht tauglich für lange Dispute. Ich muß mich eine Weile zur Ruhe legen. Das Gespräch hat mich sehr ermüdet."

Linné zog nachdenklich an seiner Pfeife, bis er verärgert merkte, daß sie ausgegangen war.
"Mensch, erkenne Dich selbst",54 murmelte er, wobei nicht klar war, ob er den bedächtig zum Haus stapfenden Darwin meinte.

RotschwanzDie Schatten der Baumkronen zeichneten ein dunkles Muster auf den Boden der Terrasse. Eine Kreuzspinne wickelte in wiederholt unterbrochener Hast die Honigbiene ein, die sich in ihrem Netz verfangen hatte. Die breiten Bänder seidener Spinnfäden, die ihrem Hinterleib entquollen, wirkten wie das Leichentuch einer Mumie. Eine Singdrossel schlug eine Bänderschnecke auf eine der Terrassenplatten, so daß das Gehäuse zerbrach. Die Schalenreste früherer Beute lagen zerstreut wie zerschlagenes Porzellan. Eine einzelne Erdhummel brummte scheinbar ziellos im Zick-Zack über die freie Fläche der Terrasse, erreichte wie zufällig die in die Sonne ragenden Blütenstände und verschwand schließlich im Rachen einer roten Fingerhutblüte.
Der Gartenrotschwanz sang noch immer unermüdlich.


Anmerkungen und Quellenangaben
1. Charles Darwin und Carl von Linné lebten durch ein Jahrhundert getrennt voneinander (12.2.1809-19.4.1882 bzw. 22.5.1707-10.1.1778). Die Gleichzeitigkeit der beiden großen Naturforscher wird im Gespräch durch die Gültigkeit ihrer Gedanken hergestellt. Der Dialog besteht zum größten Teil aus Originalzitaten, die den Schriften und Aufzeichnungen der Gesprächspartner entnommen wurden (s. Literaturverzeichnis). Die Äußerungen in den Notizbüchern Darwins sind nach der Biographie von Desmond/Moore (1994) zitiert. Wo die zitierten Aussagen im Sinn von den deutschen Übersetzungen abweichen, wurde für die hier gegebene Version auf die Originaltexte zurückgegriffen. An einigen Stellen ist der Wortlaut für die Gesprächsführung leicht abgewandelt worden. Die Idee, die beiden Männer zu einem Gespräch zusammenzubringen, lieferten die Dispute bedeutender Wissenschaftler im Buch über die biologischen Wurzeln menschlichen Verhaltens von Norbert Bischof (1993).
Die Illustrationen stammen von Wilfried Baalmann.
2. Den Ausspruch notierte Darwin bei einer Rast während eines Heidespazierganges, bei der er eingeschlafen war und umgeben von einem Chor singender Vögel erwachte (Desmond/Moore, 528).
3. Desmond/Moore, 508.
4. Desmond/Moore, 509.
5. Linné: Rede von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 243.
6. Darwin hatte die Werke des Theologen William Paley während seines Theologiestudiums in Cambridge gelesen. Sie kamen damals Darwins rationaler Weltsicht sehr entgegen. In seiner Naturtheologie zeichnet Paley das Bild einer glücklichen, harmonischen und zweckmäßig eingerichteten Natur.
7. Linné: Autobiographie, 234.
8. Darwin: Entstehung der Arten, 101 f.; 115.
9. Linné: Rede von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 256.
10. Linné: Rede von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 244 f..
11. Linné: Lappländische Reise, 57; 45; 52; 77; Autobiographie, 207; 226 f..
12. Darwin in einem Brief an den Bostoner Zoologen Asa Gray (zit. nach Altner 1981, 7).
13. Desmond/Moore, 728.
14. Desmond/Moore, 523.
15. Linné: Lappländische Reise, 25; 73.
16. Vgl. Ballauff 1954, 303.
17. Linné: Lappländische Reise, 14.
18. Linné: Autobiographie, 229. Die Vorstellung, "Gott auf den Rücken gesehen zu haben", äußert Linné in seinen Schriften wiederholt (vgl. Mierau 1991, 304).
19. Desmond/Moore, 497.
20. Darwin: Entstehung der Arten, 26f..
21. Darwin: Entstehung der Arten, 59 f..
22. Desmond/Moore, 485.
23. Der Absatz ist zusammenfassend formuliert nach Darwins Anschauungen in "Entstehung der Arten" und der vorläufigen Skizze über das "Variieren der Arten" (vgl. Altner 1981, 25).
24. Linné: Politia naturae (zit. nach Ballauf, 1954, 307).
25. Desmond/Moore, 544. Bei der Ablösung des Bildes vn einer harmonischen, planvoll gestalteten Natur hat die Erforschung der Schlupfwespen eine bedeutende Rolle gespielt. Die Kenntnis vom Ichneumon trägt zur Anschauung einer nichtmoralischen Natur bei, wie Gould (1991) eindrucksvoll zeigt. Das Motiv findet sich auch bei Linné (Von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 259).
26. Desmond/Moore, 713.
27. Desmond/Moore, 665.
28. Linné: Lappländische Reise, 87.
29. Desmond/Moore, 715; 724. Im Leben Darwins spielte seine Frau Emma eine entscheidende Rolle. Ohne ihre Nähe fühlte er sich unsicher und unwohl. Emma versorgte ihn bei seinen vielen Krankheitsanfällen. Darwin nannte sie daher liebevoll seine Krankenschwester. Er gab ihr auch Entwürfe seiner Schriften zur Begutachtung. Bereits 1844 vertraute er ihr seinen Entwurf zur Artenfrage an. Als sie zur allmählichen Entstehung des Auges durch Selektion bemerkte: "Eine gewagte Hypothese", schrieb Darwin den Absatz noch einmal um und brach seitdem jedesmal in kalten Schweiß aus, wenn er an die Evolution des Auges dachte. In Glaubenssachen kamen die beiden Eheleute nicht überein, da Emma fest an biblischen Aussagen im wörtlichen Sinn festhielt. Obgleich sie um das Seelenheil ihres Mannes bangte, achtete sie doch dessen redliche Gesinnung und verstand, daß er nicht anders konnte, als seinen Einsichten zu folgen. Im Gegensatz zu seinen Anhängern Haeckel und Huxley, die die Evolutionslehre mit religiöser Inbrunst und dogmatisch vertraten (s. Anm. 30 und 31), hielt Darwin seine wissenschaftlichen Aussagen weltanschaulich offen (vgl. Altner 1966).
30. Ernst Haeckel, Zoologieprofessor in Jena, der Darwin mehrmals besuchte. Sein kompromißloser Eifer beeindruckte die Darwins ebenso wie sein lautes Wesen. Zu seinen Geschmacklosigkeiten gehört, daß er aus der theologischen Aussage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen die Folgerung zog, der jüdisch-christliche Gott sei ein gasförmiges Wirbeltier (vgl. Desmond/Moore, 612).
31. Als "Darwins Bulldogge" wurde der Londoner Zoologieprofessor Thomas Henry Huxley bezeichnet, da dieser sich mit Nachdruck und Schärfe für die Evolutionslehre einsetzte. Huxley setzte die Evolutionslehre als Instrument ein, um die klerikalen Naturwissenschaftler aus den Ämtern zu entfernen und stattdessen mit Gesinnungsgenossen zu besetzen. Sowohl in Kompromißlosigkeit und Antiklerikalismus waren Huxley und Haeckel Geistesverwandte (s. Anm. 29 und 30; vgl. Desmond/Moore, 566; 611 ff.).
32. Weder für Huxley noch für Haeckel hatte die Selektionstheorie die entscheidende Bedeutung, die Darwin ihr gab (vgl. Desmond/Moore. 556 f.; 611 f). Wie viele andere griffen sie nur den Evolutionsgedanken auf und belegten ihn mit "Tatsachen", die Darwin für seine Theorie für unzureichend hielt (s. im Gespräch das Zitat zu Anm. 19).
33. Das englische Sprichwort, das Darwin hier zitiert, heißt: "A bench of bishops is the devil's flower garden" (Desmond/Moore, 566; engl. 501). "Bench" meint eine "Bank" im englischen Oberhaus und ist daher nicht wörtlich ins Deutsche zu übersetzen.
34. Darwin: Entstehung der Arten, 676.
35. Desmond/Moore, 542.
36. Siegmund Freud bezeichnete die Zumutung der Affenverwandtschaft durch Darwin als die zweite Kränkung der Menschheit nach Kopernikus. (vgl. dazu Vollmer 1992). Es bleibt bei dieser Feststellung meist ungeklärt, warum erst Darwins Theorie und nicht schon die Zuordnung zu den Affen durch Linné als Beleidigung empfunden wurde (vgl. Kattmann 1994, 4 f.).
37. Linné: Systema naturae, 1. Aufl. 1735; 10. Aufl. 1760, Band 1, 20.
38. Linné: Lappländische Reise, 94.
39. Desmond/Moore, 279. Darwin nennt hier als Philosophen Locke und als Erkenntnis die Metaphysik.
40. Desmond/Moore, 536. Als "rex anatomicorum" wurde spöttisch der Londoner Zoologe Richard Owen bezeichnet. Owen hatte die südamerikanischen Säugetierfossilien beschrieben und klassifiziert. Er leitete das Zoologische Museum und galt als die größte anatomische Autorität für die Anatomie der Wirbeltiere. Als Vertreter der klerikalen Wissenschaftler war er Zielscheibe der Angriffe Huxleys. Owen hatte sich nicht auf die Seite Darwins geschlagen, obwohl er selbst evolutionäre Vorstellungen hatte, in die er jedoch die Pläne des Schöpfers eingebettet wissen wollte.
41. Desmond/Moore, 513.
42. Desmond/Moore, 279 f.. Darwin machte diese Notizen, nachdem er zum ersten Mal einen Orang im Zoo beobachtet hatte.
43. Desmond/Moore, 266.
44. Linné: Rede von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 247; 248; 250; 251 f..
45. Desmond/Moore, 729; 734; 737.
46. Darwin: Abstammung des Menschen, 700.
47. Desmond/Moore, 542.
48. Darwin spielt an auf die legendär gewordene Kontroverse zwischen Thomas Henry Huxley und Samuel ("Soapy Sam") Wilberforce, dem Bischof von Oxford, die während der ersten öffentlichen Auseinandersetzung um Darwins Theorie 1860 in der "British Association" in Oxford (in Abwesenheit von Darwin) stattfand. Nach Huxleys Version der Geschichte hatte der Bischof bezogen auf ihn ironisch gefragt "War es eigentlich seine großväterliche oder großmütterliche Linie, die er als vom Affen abstammend bezeichnete?" An dieser Stelle flüsterte Huxley angeblich: "Der Herr hat ihn in meine Hände gegeben." Über seine Antwort berichtete Huxley folgendes: "Würde mir, so sagte ich, die Frage gestellt werden, ob ich lieber einen armseligen Affen als Großvater haben möchte oder einen von der Natur mit allen Gaben reichlich bedachten Menschen von großem Einfluß, der aber diese Gaben und diesen Einfluß dazu verwenden würde, eine gewichtige wissenschaftliche Frage lächerlich zu machen, dann würde ich ohne zu zögern bekennen, daß mir der Affe lieber sei" (zitiert nach Taylor 1963, 162). Nach Huxley brach das Auditorium daraufhin in Gelächter aus und stand ganz auf seiner Seite. Andere Berichte des Treffens, auch von Freunden Darwins, sahen keinen derartigen Erfolg und beobachteten auch kein triumphales Auftreten Huxleys, da dieser sich mit seiner Stimme nicht durchsetzen konnte und daher seine Zuhörer kaum erreichte. Der Triumph der Evolutionisten in Oxford trägt alle Züge einer (von Huxley selbst verfaßten) Heldenlegende (vgl. Desmond/Moore 557-563; Gauld 1994).
49. Huxley lieferte in "Evidences as to man's place in nature" (1863) die klassische Form der im Rahmen der Biologie postulierten Sonderstellung des Menschen. "Wir mögen daher ein System von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Vergleichung ihrer verschiedenen Ausprägungen in der Affenreihe führt zu ein und demselben Ergebnis, daß die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen scheiden, nicht so groß sind als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen trennen. ... Gleichzeitig ist niemand so stark überzeugt wie ich, daß der Abstand zwischen den zivilisierten Menschen und den Tieren ein ungeheurer ist. Niemand ist dessen so sicher, daß, mag der Mensch von den Tieren stammen oder nicht, er zuverlässig nicht eins derselben ist." Die biologischen Versuche, eine Sonderstellung des Menschen zu formulieren, erscheinen als das Kind der Affenverwandtschaft des Menschen. In unvoreingenommener evolutionsbiologischer Perspektive wäre der Begriff der Sonderstellung durch die Formulierung der Eigenart zu ersetzen (vgl. Kattmann 1974; 1994).
50. Vordarwinisch ist eine biologische Begründung der Sonderstellung aufgrund des teleologischen Naturverständnisses nicht gefragt (vgl. Kattmann 1994, 4 f.).
51. Linné: Rede von den Merkwürdigkeiten an den Insekten, 246 ff..
52. Darwin: Abstammung des Menschen, 701.
53. Darwin: Abstammung des Menschen, 700.
54. In der 10. Aufl. von "Systema naturae" (1760, Band 1, 20) erläutert Linné das zum Artnamen Homo sapiens bereits in der 1. Aufl. (1735) hinzugesetzte "Nosce te ipsum" in einer Anmerkung: "Nosce te ipsum est primus sapientiae, dictumque Solonis, quondam scriptum litteris aureis supra Dianae templum."

Literatur
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Altner, G. (1981) (Hrsg.). Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Ballauff, T. (1954). Die Wissenschaft vom Leben. Band 1. Eine Geschichte der Biologie vom Altertum bis zur Romantik. Freiburg & München: Alber.
Bischof, N. (1993). Das Rätsel Ödipus. München: Piper (3. Aufl.).
Darwin, C. (1859). On the Origin of s pecies. (Reprint nach der 1. Auflage, London: Pinguin Classics 1985; deutsche Übersetzung von Carl W. Neumann nach der 6. Aufl. von 1872, Stuttgart: Reclam 1963).
Darwin, C. (1871). Die Abstammung des Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von Viktor Carus (2. Aufl. 1874, Nachdruck 1992, Dreieich: Weiss-Verlag).
Desmond, A., & Moore, J. (1994). Darwin. Reinbek: Rowohlt (engl. Originalausgabe 1991, London: Michael Joseph).
Gauld, C. F. (1994). The ballad of "Soapy Sam" and "Darwins Bulldog": A case study of the use of history in science education. St George Papers of Education 3. University of New South Wales, Australia.
Goerke, H. (1989). Carl von Linné. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (2. Aufl.).
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Huxley, T. H. (1863). Evidences as to man's place in nature. Williams & Norgate, London (dtsch.: Zeugnisse der Stellung des Menschen in der Natur. Stuttgart: Fischer 1963).
Kattmann, U. (1994). Menschenbild und Evolution des Menschen. Unterricht Biologie 18 (200), 4-13.
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Linné, C (1768). Carl Linné (Autobiographie). In: Linné, 1991, 158-242.
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Linné, C. von (1991). Lappländische Reise und andere Schriften. Leipzig: Reclam (4. Aufl.).
Mierau, S (1991). Nachwort. In: Linné, 1991, 6-156.
Taylor, G. R. (1963). Das Wissen vom Leben. München & Zürich: Knaur.
Vollmer, G. (1992). Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen - Gehirn, Evolution und Menschenbild. In: Biologie heute (400), 1-3; (401), 2-5.

(Stand: 19.01.2024)  | 
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