120 Quadratmeter künstliche Inseln haben Oldenburger Wissenschaftler im Spiekerooger Watt angelegt. Das weltweit einmalige Großprojekt liefert neue Erkenntnisse für die Biodiversitätsforschung.
Sie sind von der Fähre nach Spiekeroog aus zu sehen – mitten im Watt: Zwölf große Metallkäfige aus schwerem Schiffsstahl. Sie wirken wie große, silberne Trutzburgen, die sich Wasser, Wetter und Wind widersetzen. Es sind aber künstliche Inseln. Künstliche Inseln, mit denen Forscher der Universität Oldenburg wissenschaftliches Neuland betreten. Das groß angelegte, weltweit einmalige Forschungsprojekt ist eine Kooperation mit dem Nationalpark Wattenmeer und der Universität Göttingen. Sie hat das Ziel herauszufinden, wie Pflanzen und Tiere Inseln im Wattenmeer besiedeln. Und wie sich die Artenvielfalt mit ansteigendem Meeresspiegel verändert.
„Inseln entstehen durch Anhäufung von Sedimenten – das ist bekannt“, erklärt der Landschaftsökologe Prof. Dr. Michael Kleyer vom Institut für Biologie und Umweltwissenschaften (IBU). „Aber wir wissen kaum etwas darüber, wie die Besiedlung mit Pflanzen und Tieren abläuft, wenn Salzwiesen weit entfernt von bestehenden Salzwiesen neu entstehen.“ Um Aufschluss darüber zu bekommen, hat Kleyer mit einem Team um den Wissenschaftler Dr. Thorsten Balke im vergangenen Sommer die künstlichen Inseln im Spiekerooger Watt installiert. Eine Knochenarbeit.
Zehn Studenten und Nachwuchswissenschaftler arbeiteten acht Wochen daran, die schweren Metallkäfige im Watt zu verankern. Sie schippten Sediment, bauten ein Fundament aus einem Geotextil, eine Art witterungsresistenter Teppich, der verhindern soll, dass die schweren Käfige im Watt versinken. Sie brachten Messgeräte an, die Salzgehalt und Temperatur registrieren. So entstand Schritt für Schritt ein Freiluftlabor, wie es weltweit einmalig ist – ein Inselsystem im Zeitraffer: „Wir haben den ganzen Entstehungsprozess einer Insel im Watt auf einen Schlag abgekürzt“, lacht Balke. Mehr als 120 Quadratmeter künstliche Insel dokumentieren nun, wie aus einem marinen ein terrestrisches Ökosystem entsteht.
Acht Doktoranden und mehrere Postdoktoranden aus Oldenburg und Göttingen forschen an dem Großversuch. Sie sind in dem Projekt „BEFmate“ (Biodiversity effects on ecosystem functioning across marine and terrestrial ecosystems ) organisiert, das die Niedersächsische Landesregierung mit drei Millionen Euro fördert. Sprecher ist der Oldenburger Meereswissenschaftler und Direktor des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM), Prof. Dr. Helmut Hillebrand.
Spiekeroog, die naturbelassenste der ostfriesischen Inseln, bietet ideale Forschungsbedingungen für dieses außergewöhnliche Projekt. Die Forschergruppe „BioGeoChemie des Watts“ des ICBM ist dort seit Jahren präsent, ermittelt seit 2002 mit dem „Gelben Messpfahl“ präzise Messdaten zu physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaften des in- und ausströmenden Meerwassers. Das Gebiet war den Wissenschaftlern also bestens bekannt. Zudem unterhält die Universität seit kurzem im Nationalparkhaus Wittbülten einige Labore und Apartments für Wissenschaftler, in denen Kleyer und sein Team während der Aufbauarbeiten unterkommen konnten. „Spiekeroog ist ja einer der touristischen Hotspots in Deutschland – die Unterbringung der Wissenschaftler war immer ex-trem kostspielig. Oftmals scheiterten Forschungsvorhaben daran“, berichtet Kleyer. Wittbülten wirke diesem Manko entgegen.
Mehrere hundert Meter trennen die experimentellen Inseln von Spiekeroog. Pflanzen und Tiere, die sich dort ansiedeln, müssen zuerst diese Barriere überwinden. Welche Pflanze wird zuerst ihre Heimat auf der neuen Insel finden, welches Tier? Wie stehen sie in Interaktion miteinander, beeinflussen sie sich gegenseitig? Werden sie von Pflanzen oder Tieren, die sich später auf der Insel ansiedeln, verdrängt? Welche Bedeutung haben sie für das neue Ökosystem? Wie viel neue Biomasse entsteht durch den Besiedlungsprozess und wie entwickelt sich ein neues Nahrungsnetz? Um diese Fragen zu beantworten, wandern die Wissenschaftler im Sommer bei Ebbe fast täglich zu den Inseln, führen Messkampagnen durch und protokollieren die Pflanzen und Tiere, die sich dort niederlassen. Ein langwieriger Prozess. Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt – wobei die Wissenschaftler eine Verlängerung auf zwölf Jahre anstreben.
Sechs der künstlichen Inseln haben die Experten im Vorfeld bepflanzt. Mit Pflanzen, die in den Spiekerooger Salzwiesen vorkommen: Andelgras, Salzmelde, Strandflieder. Verschiedene Höhenstufen der künstlichen Inseln simulieren die Überflutungszonen der Salzwiesen, sie sorgen dafür, dass die Pflanzen unterschiedlich häufig dem Salzwasser der Nordsee ausgesetzt sind. So analysieren die Wissenschaftler den Anstieg des Meeresspiegels und dessen Auswirkungen auf die Vegetation. „Wir setzen die Pflanzen der Salzwiesen auf unseren künstlichen Inseln gezielt unter Druck, schauen, wie sie mit diesem ,Stress‘ zurechtkommen, die veränderten Umweltbedingungen verkraften“, erklärt Kleyer. Wie lange dauert es, bis sie eingehen oder durch resistentere Pflanzen ersetzt werden? Wie stark ist ihre Widerstandkraft? Fragen, auf die bei einem gegenwärtigen relativen Anstieg des Meeresspiegels um bis zu vier Millimeter pro Jahr, dringend eine Antwort gefunden werden muss.
Am Anfang des Forschungsprojekts stand jedoch ein herber Rückschlag. Ein Rückschlag, der eindrucksvoll verdeutlicht, wie einmalig dieses Projekt ist. Die ersten künstlichen Inseln installierte die Forschergruppe bereits im Sommer 2013 im Watt. Leichtere Metallkörbe hielten den Naturkräften so lange Stand, bis Anfang Dezember der Orkan Xaver auf die künstlichen Inseln traf – mit Windstärke 13. Spielend zerstörte Xaver die komplexen Aufbauten. „Es gibt in der Biodiversitäts- und Ökologieforschung kein vergleichbares Projekt, bei dem besiedelbare Inseln in einem Küstensystem mit Meer, Sturmfluten und Wellen gebaut wurden“, erklärt Balke. „Wir mussten erst einmal Erfahrungen sammeln“, ergänzt Kleyer. „Wir sind die Vorreiter, können keine bereits existierende Versuchsanordnung besuchen und studieren oder diese gar verbessern.“
Wie herausragend diese Forschung ist, zeigt auch die enge Kooperation mit dem Nationalpark Wattenmeer. Bisher gab die Verwaltung die strenge Devise aus: keine Experimente im Wattenmeer. Die Untersuchungen der Oldenburger Wissenschaftler bilden eine Ausnahme in dem hochgeschützten UNESCO-Weltnaturerbe – ein absoluter Vertrauensbeweis und eine Wertschätzung der Oldenburger Forschung.