Seit vielen Jahren engagiert sich der der Oldenburger Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand dafür, irakische Lehrkräfte für die Anforderungen der Inklusion auszubilden. Ein Interview über Fortschritte und bleibende Herausforderungen.
Herr Hillenbrand, in Ihrem Projekt „Qualifizierung für inklusive Bildung Irak“ ging es unter anderem darum, sonderpädagogische Kompetenz aufzubauen und so die Inklusion im Land zu befördern. Wie wichtig ist dieses Thema in einem Land, das von Gewalt, Kriegen und geopolitischen Unwägbarkeiten betroffen ist?
Durch die Kriege, Terroranschläge und Gewaltakte erleiden viele Menschen und insbesondere auch Kinder an Seele und Körper fürchterliche Verwundungen. Hinzu kommt, dass viele Familien erheblich belastet sind, etwa weil Familienmitglieder gestorben sind. Wenn ein Kind anstatt in einem stabilen Familienumfeld in einem Flüchtlingslager mit miserablen Lebensbedingungen aufwächst, dann wird es sehr wahrscheinlich Schädigungen davontragen. Durch all dies ist der Bedarf an Inklusion enorm. Doch der Staat ist mit der Hilfe für die Kinder oft überfordert. Sie sind nicht nur die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, sondern auch ihre Seismographen: Sie sind die ersten, die leiden, und die ersten, die Beeinträchtigungen erfahren. Immerhin gibt es einen Konsens in der irakischen Gesellschaft, dass Inklusion, dass das Recht auf Leben, dass bestmögliche Lebensbedingungen für alle Menschen unbedingt erstrebenswert sind.
Verstehen wir in Deutschland dasselbe unter „Inklusion“ wie die Menschen im Irak?
Die irakische Regierung hat 2013 die entsprechende UN-Konvention zur Inklusion unterzeichnet und einen Aktionsplan zur Einrichtung inklusiver Schulen entwickelt. Zwar orientiert sich der irakische Umgang mit dem Begriff der Inklusion sehr an internationalen Dokumenten, und anders als bei uns existieren im Irak keine „Regalmeter“ an Literatur zum Thema, aber trotzdem gibt es ein relativ klares Verständnis: Inklusion bedeutet bestmögliche Unterstützung aller Kinder, besonders aber von benachteiligten und behinderten Kindern, und das möglichst in allen Schulen. Die deutsche Debatte über die Abschaffung von Förderschulen spielt dagegen im Irak keine Rolle, weil es dort kaum Förderschulen gibt. Diskussionen über Inklusion verlaufen vielmehr pragmatisch an der Frage ausgerichtet: Wie können wir alle Kinder bestmöglich unterstützen?
Wie konnten Sie Ihre irakischen Partner unterstützen?
Wir haben sie darin unterstützt, sich internationale Standards von Sonderpädagogik und Inklusion anzueignen. Beispielsweise mangelt es im Irak an Expertise und Fachpersonal für sonderpädagogische Diagnostik. Wir haben gemeinsam daran gearbeitet, auf der Basis von empirischen Forschungsergebnissen die Ressourcen und Stärken, die ja eine wichtige Grundlage für jede Pädagogik sind, zu identifizieren; aber auch Verhaltensstörungen, Traumata, Autismus, körperliche Beeinträchtigungen oder geistige Behinderungen noch besser voneinander abzugrenzen und diagnostizieren zu können. Auch haben wir gemeinsam Unterrichtskonzepte für inklusiven Unterricht entwickelt.
Inzwischen haben allein in Dohuk rund 500 Studierende ihr Studium abgeschlossen
Welche konkreten Fortschritte gibt es?
Schon meine Vorgängerin Monika Ortmann hat daran mitgewirkt, in Dohuk einen Bachelor-Studiengang Sonderpädagogik aufzubauen. Ich habe diese Arbeit fortgesetzt. Wir haben unsere irakischen Kolleginnen und Kollegen beraten, was die Inhalte des Studiums betrifft. Inzwischen haben allein an der Universität Dohuk rund 500 Studierende ihr Studium am Institut für Sonderpädagogik erfolgreich abgeschlossen. Zudem ist vor Kurzem ein Masterstudiengang angelaufen. Dies ist etwas Besonderes, denn die meisten Lehrkräfte im Irak machen lediglich einen Bachelor-Abschluss. Im vergangenen Jahr besuchten wir unsere Kolleginnen und Kollegen an der irakischen Universität, mit denen wir zum Teil schon jahrelang im Austausch stehen, sowie die dortigen Einrichtungen für Kinder mit Behinderung. Die Fortschritte bei den Studiengängen und Fortbildungen zu sehen oder neue Strukturen kennenzulernen – all das war für mich etwas Besonderes.
Ihre irakischen Kolleginnen und Kollegen waren auch schon mehrmals in Oldenburg. Wie wichtig waren diese Besuche?
Besonders die Schulbesuche bei uns vor Ort waren sehr wertvoll, um die Möglichkeiten der Inklusionsarbeit persönlich und in der Praxis zu erleben. Wir haben in Deutschland ein weltweit beinahe einmalig breit ausgebautes System der Unterstützung für Menschen mit Behinderung – von der inklusiven Vorschule und Kita über alle Schulformen bis hin zu sonderpädagogischen oder sozialpädiatrischen Zentren. Zu sehen, wie Kinder mit deutlich sichtbaren Beeinträchtigungen, aber auch mit eher unauffälligen, unterstützt werden können, war sehr wichtig für unsere Partner.
Spielen auch persönliche Verbindungen zwischen Deutschland und dem Irak eine Rolle?
Ja. Einmal kamen wir während eines Schulbesuchs in Oldenburg in ein Klassenzimmer und stellten die irakische Delegation vor. Einige der Schulkinder haben unsere Gäste dann auf Kurdisch angesprochen, weil sie als Flüchtlinge aus derselben Region kamen wie sie. Dies war für alle Beteiligten berührend. Auch die in Oldenburg stark vertretene jesidische Gemeinde, zum Beispiel, hat uns bei vielen Projekten unterstützt.
Deutschland hat in den Staaten des Mittleren Ostens einen sehr guten Ruf
Welche Herausforderungen bleiben – konkret für die Inklusion im Irak, aber auch für Projekte wie das gerade abgeschlossene?
Da gibt es mehrere. In vielen irakischen Schulen gibt es nur kleine Klassenzimmer, in denen teilweise 60 und mehr Kinder sitzen. Wie soll da ein Rollstuhl Platz finden? Mit solchen praktischen Dingen fängt es an. Auch ist es kaum möglich, bei diesen Klassengrößen binnendifferenziert zu unterrichten oder den Lernenden ausführliches Feedback zu geben. Auch beim Personal gibt es Probleme. Es mangelt dem Staat an Geld, die entsprechenden Fachkräfte einzustellen, und das Gehalt von Lehrkräften ist derart niedrig, dass viele gezwungen sind, einen zweiten Job anzunehmen. Dafür fehlt ihnen dann oft Zeit für Austausch oder Fortbildungen. Ein drittes Problem ist die fehlende Vernetzung. Es fehlt ein zivilgesellschaftlicher Verband, der sich für sonderpädagogische Forschung und Investitionen in Inklusion einsetzt. Immerhin konnten wir bei unserem letzten Meeting die Gründung eines solchen Verbandes auf den Weg bringen. Ein weiteres Problem hat leider auch mit Deutschland zu tun.
Inwiefern?
Leider bekommen viele irakische Lehrkräfte und Studierende kein Visum für Deutschland – auch für unsere Projektpartner war dies schwierig. Hier könnte die deutsche Regierung Erleichterungen schaffen, besonders vor dem Hintergrund, dass Deutschland in den Staaten des Mittleren Ostens einen sehr guten Ruf hat und uns viel Vertrauen entgegengebracht wird. Ähnliches gilt für die EU. Doch leider engagiert sich die EU nur wenig für die Bildungsarbeit in der Region. Dabei wäre internationale Kooperation in der Bildung so wichtig, weil gute Bildung Perspektiven schafft und soziale Probleme lindern hilft, die sonst die Basis für neue Konflikte bilden.
Bei allen Hindernissen: Was nehmen Sie persönlich aus Ihrer Arbeit im Irak mit?
Vor allem eine große Ermutigung, immer wieder den Austausch zu suchen. Das Interesse unserer Partner an unserer Arbeit hat mir gezeigt, wie viel wir geben können. Auch das Engagement vor Ort für Inklusion, und das unter ganz anderen Lebensbedingungen als hier bei uns, hat mich ermutigt. Ich möchte den Kontakt in den Irak unbedingt aufrechterhalten, um den Austausch und die Kooperation fortzuführen. Besonders freut mich, dass die angehenden irakischen Lehrkräfte ihr Wissen über Inklusion mit in die Schulen nehmen und an andere weitergeben. Das ist schön zu sehen, und stärkt meine Überzeugung, durch meine Arbeit tatsächlich etwas bewirken zu können.
Interview: Henning Kulbarsch