Eine neue Emmy Noether-Nachwuchsgruppe unter Leitung des Neurowissenschaftlers Martin Bleichner untersucht, wie wir Lärm wahrnehmen. Dafür wollen die Forscher Hirnsignale im Alltag messen.
Was Lärm ist und was nicht, lässt sich nur schwer definieren. „Lärmwahrnehmung ist eine sehr subjektive Angelegenheit“, erläutert Dr. Martin Bleichner. Ein Symphonie-Orchester kann Töne erzeugen, die lauter sind als eine Kettensäge in einem Meter Abstand. Dennoch wird selbst extrem laute klassische Musik von den meisten Menschen nicht als Krach empfunden, während eine kreischende Kettensäge gewaltig nervt. „Was wir als Lärm wahrnehmen, hängt nicht allein vom Geräusch ab, sondern immer auch von unserer Interpretation einer Situation“, sagt Bleichner.
Der Neurowissenschaftler möchte genau diese individuelle Wahrnehmung erfassen – um später zum Beispiel herausfinden zu können, ob es einen Zusammenhang mit Folgekrankheiten wie Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen oder Herzerkrankungen gibt. Bislang werden schädliche Geräuschpegel rein physikalisch definiert, doch im Prinzip kann jedes störende Geräusch unabhängig von seiner Lautstärke Stress hervorrufen.
Elektroden messen die Gehirnaktivität
Bleichner, seit 2013 Postdoc in der Abteilung Neuropsychologie von Prof. Dr. Stefan Debener, ist kürzlich in das renommierte Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aufgenommen worden. Sein Projekt trägt den Titel „Transparentes EEG zur Messung der Lärmwahrnehmung in Alltagssituationen“ und wird mit bis zu 1,3 Millionen Euro gefördert. Zusammen mit vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern will der Neurowissenschaftler in den kommenden sechs Jahren die Lärmwahrnehmung im Alltag erforschen – und dabei die technischen und methodischen Voraussetzungen für subjektive Lärmmessungen schaffen.
Zentral für sein Vorhaben sind mobile EEG-Geräte sowie besondere Messelektroden, die in der Abteilung Neuropsychologie entwickelt wurden. Diese Elektroden, cEEGrid genannt, können die Gehirnaktivität unauffällig auch außerhalb des Labors aufzeichnen. Sie ersetzen unkomfortable Kappen, die Probanden bislang für eine Messung des Elektroenzephalogramms (EEG) aufsetzen mussten. Bleichner hat sich mit der mobilen Messvorrichtung bereits als Teil des Exzellenzclusters Hearing4all beschäftigt.
Sie besteht aus zehn Messfühlern innerhalb einer durchsichtigen Plastikfolie, die wie der Buchstabe C angeordnet sind. Sie werden um die Ohrmuscheln herum platziert und sind kaum zu sehen. Zur Messvorrichtung gehört ein Verstärker von der Größe einer Zigarettenschachtel, der die Signale zur Aufzeichnung drahtlos an ein Smartphone überträgt. Das Handy zeichnet gleichzeitig die Umgebungsgeräusche auf. Die Probanden können während der Messungen ihrem ganz normalen Tagesablauf nachgehen.
Vom Labor zum Einsatz im Alltag
„Zunächst wollen wir die Frage klären, wie gut die Datenqualität ist, wenn wir das EEG in Alltagssituationen einsetzen, und wie viel wir gegenüber Labormessungen einbüßen“, beschreibt Bleichner ein Ziel seines Projekts. In Studien haben Oldenburger Neurowissenschaftler bereits festgestellt, dass das kleine Ohr-EEG erstaunliche Dinge verrät. Anhand der Signale lässt sich etwa feststellen, welchem von zwei Hörbüchern eine Versuchsperson lauscht oder welches Musikstück sie gerade anhört. „Es ist nicht so, dass wir die Gedanken lesen könnten“, erläutert Bleichner, „aber die Zacken im EEG zeigen beispielsweise, ob die Person gerade vier oder fünf Töne gehört hat, und daraus kann man dann auf das Musikstück schließen.“ Wenn jemand ein Geräusch gar nicht wahrnimmt, es sozusagen komplett ausblendet, ist dies ebenfalls im EEG zu erkennen.
Zunächst will der Forscher die Gehirnsignale von Probanden im Labor unter kontrollierten Bedingungen aufzeichnen, um bestimmte Tonfolgen und Gehirnaktivitäten einander zuordnen zu können. Schritt für Schritt sollen die Messungen dann ins echte Leben vordringen: Bei weiteren Experimenten sollen die Probanden in Alltagssituationen die gleichen Tonfolgen wie im Labor hören, etwa, wenn sie am Schreibtisch sitzen. Im letzten Schritt soll dann der ganz normale Alltag mitsamt seiner natürlichen Geräuschkulisse abgebildet werden.
Wie hoch ist die Lärmbelastung im Kindergarten?
Das Projekt verspricht interessante Erkenntnisse: Aufbauend auf den Ergebnissen könnte zum Beispiel untersucht werden, wie stark Lehrerinnen oder Kindergärtner tatsächlich durch einen hohen Lärmpegel belastet werden. Die Experimente könnten außerdem erfassen, wie der Lärm-Stress im Laufe eines Tages ansteigt, und ob verschiedene Personen das gleiche Geräusch tatsächlich unterschiedlich wahrnehmen.
„Durch das mobile EEG bekommt man ein objektiveres Bild als wenn man Personen direkt befragt“, sagt Bleichner. Dank der unauffälligen Sensoren hinter dem Ohr vergessen die Träger, dass sie gerade an einem Experiment teilnehmen, und auch das Umfeld verhält sich natürlicher. Die Messung der Lärmwahrnehmung sei eine erste Anwendung, um die Arbeit des Gehirns in natürlichen Situationen besser zu verstehen, sagt Bleichner: „Langfristig arbeiten wir sozusagen an einer Neurophysiologie des Alltags.“