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Tagung: Aufgezeichnetes Erbe. Kulturelle Interferenzräume des östlichen Europa als Sujet im Comic
7./8.11.2024 BKGE, Oldenburg
Der jahrzehntelang als trivial verrufene Comic erlebt seit einigen Dekaden in Deutschland eine Konjunktur, die neben der wachsenden Präsenz auf dem Buchmarkt in Feuilletons, Museen, auf Festivals und Internetforen ebenso ablesbar ist wie in der Forschung und Lehre. Zunehmend ist dieser Aufschwung auch in Narrativen über das östliche Europa zu verzeichnen, was insbesondere für Kriegskinder und -enkel:innen gilt, die ihr oder ein sehr unterschiedlich gestaltetes ‚Erbe‘ aus dem 20. Jahrhundert und darüber hinaus aufzeichnen. Hierbei trägt vor allem die dem Comic, der Graphic Novel oder allgemein der grafischen Literatur inhärente Hybridität von verbaler und bildlicher Sprache zu einem vielfältigen Nachzeichnen von Geschichte(n) bei. Ebenso abstrakt wie konkret, teils dokumentarisch, teils fiktiv werden mit dem ‚Redrawing‘ auch Leerstellen, Marginalisiertes und Unbekanntes erfasst.
Anders als in rein verbalen Erzählungen, deren lineare Abfolgen zur Chronologie tendieren, neigt die Bildebene im Comic zu einem nichtlinearen Verhältnis zur Zeit. Zum einen lassen sich Bilder – wenn auch nicht notwendigerweise – leichter erfassen als ein Text, zum anderen sind Panels zugleich neben- und untereinander positioniert oder im unterschiedlichem Maße aufgebrochen. So können auf einer Seite oder in einem Panel Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft koexistieren, korrespondieren und kollidieren. Die literarische Polyphonie (Michail Bachtin) erweist sich hierbei als Polygrafie, die Varianten von Geschichte(n) ins Bild setzt, ihre ‚Gemachtheit‘ aufzuzeigen vermag und gegebenenfalls affirmativ oder subversiv kommentiert. Eben diese Vielfalt entspricht den einst multiethnischen Blickwinkeln in östlichen Regionen sowie (auto-)biografischen Perspektiven von Nachgenerationen. Mitunter gilt dies auch für Zeitzeug:innen der Shoah, des Zweiten Weltkriegs sowie von Umsiedlungen, Flucht und Vertreibungen, die Zeichnungen und Comics etwa als Lagerinhaftierte oder unterwegs in den Kriegswirren anfertigten. Offenbar werden hierdurch neuartige Verflechtungen und Verbindungen sowie Verletzungen – in testimonialen Fällen sogar aus erster Hand.
Ähnlich wie in der Shared Heritage-Literatur[1] fällt in den grafischen Skizzen und Ausarbeitungen eine Vielzahl von Familiengeschichten, aber auch (Reise-)Reportagen, Dokumentation und (Kriegs-)Tagebüchern auf, bei denen gerade die Nachgenerationen explizit spekulieren. Längst hat sich der Comic als Erinnerungsmedium profiliert, in dem insbesondere das Fragmentarische, die Last und auch die Latenz des Erbes intermedial zum Ausdruck kommen. Dessen Autor:innen leben ebenso im deutschsprachigen Raum wie etwa in Polen, Litauen, Serbien, Russland, Tschechien, der Ukraine oder Ungarn; hinzu kommen Künstler:innen, die aus dem östlichen Europa stammen oder dort familiäre Wurzeln besitzen, zwischenzeitlich jedoch in deutschsprachigen Ländern wirken. Zu solchen Comicschaffenden, die teils selbst zeichnen, teils mit Illustrator:innen zusammenarbeiten, gehören Agata Bara, Tomasz Bereźnicki, Jan Blažek, Lina Itagaki, Jaromír 99, Reinhard Kleist, Oxana Matiychuk, Monika Powalisz, Jaroslav Rudiš, Bianca Schaalburg, Marek Toman, Birgit Weyhe und Barbara Yelin.
Die geplante Tagung will die grafisch-textuellen Rekonstruktionen eines gemeinsamen (Kultur-)Erbes, dessen Details oft verschüttet sind, untersuchen. Dabei soll der aus der Architekturgeschichte und Denkmalpflege kommende Begriff Shared heritage auf eine Literatur übertragen werden, deren grafische Elemente gerade die materielle Dimension des (Kultur-)Erbes ab- und nachbilden.
Dementsprechend stellen sich u.a. folgende Fragen:
Welche Funktionen kommen den grafischen Aspekten und ihrer narrativen Einbindung zu? Welche Einsichten oder Erkenntnisse bietet das Wechselverhältnis von Bild und Text – auch im Vergleich zu rein literarischen Erzählungen?
Fotovorlagen oder fotografische Collagen sind gängige Comicverfahren. Inwiefern dienen diese einer Zeugenschaft und inwiefern kommt dem Comic überhaupt ein Zeugnispotential zu? Wie konstruieren die grafischen Erzählungen ‚Authentizität‘?
Inwiefern ist der Comic ein Erinnerungsmedium? Inwiefern erweist er sich gerade für Autor:innen aus dem östlichen Europa bzw. für Autor:innen, die über diese Region schreiben, als so attraktiv?
Wie werden (Auto-)Biografisches und Familiengeschichten erzählt und ins Bild gesetzt? Auf welche Weise erfolgen Distanzierungen, Annäherungen und Einbindungen?
Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung an eine ‚Kindheit‘? Und welche Kindheitskonzepte werden in Kombination mit der Erinnerungsarbeit konstruiert?
Wie wird der Comic zum Shared Heritage als (vermeintlich) popkulturelles Medium geschichtspolitisch und/oder didaktisch eingesetzt?
Inwiefern wird im handwerklich geprägten Comic das digitale Hyper-Archiv aufgegriffen? Wie positionieren sich diesbezüglich die digital sozialisierten Nachgenerationen?
[1] Vgl. Shared Heritage. Gemeinsames Erbe. Kulturelle Interferenzräume im östlichen Europa als Sujet der Gegenwartsliteratur. Hg. von Silke Pasewalck. Berlin-Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023.
Programm
07.11.
10.00-10:30
Silke Pasewalck, Gudrun Heidemann, Thomas Boyken
Einführung
Comics als Erinnerungsmedien
Moderation: Silke Pasewalck
10:30-11:00
Christine Gundermann (Köln), online
Comics als Medium des kulturellen Gedächtnisses. Zur Konstruktion von Authentizität und der Darstellbarkeit von Erinnerung
11:00-11:30
Anna Stemmann (Leipzig)
„Oma, bei dir ist es so schön gemütlich!“ – Erinnerte Familiengeschichte im Spiegel der Zeitgeschichte
11:30-12:00
Kaffeepause
Geteiltes Erbe im Comic
Moderation: Thomas Boyken
12:00-12:30
Jan V. König (Bratislava)
Zwischen Grafik, Film und Plattform: Transmediale Vernetzungen im tschechischen Shared Heritage-Comic
12:30-13:00
Gudrun Heidemann (Łódź/Greifswald)
‚Opa war doch Nazi‘. Spurensuche der Nachgeneration im Comic
13.00-14:00
Mittagspause
Moderation: Silke Pasewalck
14:00-14:30
Adriana Aquaviti (Frankfurt/Main)
Das unsichtbare Erbe: Transgenerationale Traumata in Nina Bunjevac Vaterland. Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada (2015)
14:30-15:00
Alina Molisak (Warszawa/New York), online
Verschiedene Formen von Erbschafen. Das Werk von Rutu Modan und das polnisch-jüdische Erbe
15:00-15:30
Svitlana Pidoprygora (Mikolaiv/Basel)
Narrating War Through a Western Lens: Igort’s Comic Reportages on Ukraine
15:30-16:00
Kaffeepause
20:00-22:00
Edith-Russ-Haus / Katharinenstraße 23
Comic-Lesung mit Barbara Yelin und Marek Toman
Moderation: Gudrun Heidemann
Anschließendes gemeinsames Essen mit den beiden Autor:innen (Tisch reservieren ab 21 Uhr)
08.11.
Sozialistisches Erbe im Comic
Moderation: Renata Makarska
9:30-10:00
Moira Paleari (Milano)
Geschichte(n) intermedial gestalten – Genossin Kuckuck von Anke Feuchtenberger
10:00-10:30
Kalina Kupczyńska (Łódź)
Im Zeichen der Platte vereint? Sozialistische Architektur als geteiltes Erbe im Comic
Sowjetisches Erbe im Comic
10:30-11:00
Bettina Egger (Salzburg), online
Aufgezeichnetes Erbe – Tschernobyl als ökologischer Erinnerungsort in Tchernobyl mon amour und Le Sarcophage
11:00-11:30
Kaffeepause
Moderation: Gudrun Heidemann
11:30-12:00 Alina Baravykaitė (Greifswald)
Die litauische Graphic Novel als Erinnerungsmedium
12:00-12:30 Silke Pasewalck (Oldenburg)
Zur Rolle der Imagination in postmemorialen Graphic Novels – am Beispiel von Jurga Viles Sibiro Haiku und Bianca Schaalburgs Der Duft der Kiefern
12:30-13:30
Mittagspause
Transnationale und transmediale Künstlerporträts im Comic
Moderation: Gudrun Heidemann
13:30-14:00
Ekkehard Haring (Oldenburg)
Kafkas Bilder – Bilder Kafkas. Interferenzen einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte
14:00-14:30
Tanja Zimmermann (Leipzig), online
Chagall auf der Wanderschaft zwischen Kulturen und Medien in Joann Sfars Chagall en Russie
14:30-15:00
Matthias Harbeck (Berlin)
Vermischte Nationalitäten zwischen Holocaust, Kaltem Krieg und neuem Nationalismus – „deutsche Osteuropäer im US-Superheld:innencomic seit 1960
16:00-16:30
Kaffeepause mit kleinem Imbiss
Abschluss mit Keynote
16:30-17:00
Moderation: Thomas Boyken
Niels Schröder (Hamburg)
„I got Rhythm. Das Leben der Jazzlegende Coco Schumann“ – über den Entstehungsprozess einer biographischen Graphic Novel unter besonderer Berücksichtigung der Miteinbeziehung des Zeitzeugen im Rahmen der Rekonstruktion und Visualisierung seiner Lebensgeschichte
17:00-18:00
Abschlussdiskussion
Moderation: Silke Pasewalck, Gudrun Heidemann, Thomas Boyken
Abschluss-Essen (auf eigene Kosten)
Tagungsort
Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa
Johann-Justus-Weg 147 a
D-26127 Oldenburg
www.bkge.de
Organisation
Prof. Dr. Thomas Boyken, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Prof.'in Dr. Gudrun Heidemann, Uniwersytet Łódzki/Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Dr. Silke Pasewalck, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa