Grundtypen

Grundtypen

Im Kambrium existierte ein reiche Fauna aus „Typen“, die heute nicht zu finden sind, darunter auch unser Vorfahr und der aller Wirbeltiere: Pikaia (Bildmitte).

Biologos: Kein Grund für Grundtypen

Die Evolutionstheorie Darwins stand seit ihrer Veröffentlichung in Gegensatz zu einer Auffassung, nach der die Lebewesen als Typen geschaffen wurden, die seitdem unverändert bestehen. Im Schöpfungstext gehören dazu selbst die Haustiere ("Tiere auf dem Felde").
Von dieser Anschauung wollen sich jene Gruppen nicht verabschieden, die die Schöpfungserzählungen der Bibel so verstehen, dass die Lebewesen in einem einmaligen historischen Schöpfungsakt planvoll und einzeln geschaffen wurden: Traditionell heißt diese Anschauung Kreationismus.
Neuerdings treten Kreationisten in Deutschland in gemäßigter Form auf. Dafür beanspruchen sie allerdings, als Wissenschaftler anerkannt zu werden. Nicht von Schöpfungsglauben, sondern von Schöpfungswissenschaft soll die Rede sein.

Gemäßigter Kreationismus. Nun sind die Belege für die Variabilität und Veränderlichkeit der Arten seit Darwin so überzeugend, dass diese Tatsache kaum mehr bestritten wird. Für „moderne“ Kreationisten soll sie allerdings nur innerhalb der ursprünglich geschaffenen Typen gelten, also für Arten und nah verwandte Formengruppen: die Grundtypen. Für die Abgrenzung der Grundtypen soll ein einwandfreies biologisches Kriterium gelten, nämlich die Kreuzbarkeit oder mindestens Rudimente derselben: Entstehen von fruchtbaren oder unfruchtbaren Nachkommen oder mindestens Entwicklung der Zygote und Anlage von Keimen (Embryonen). Als solche Grundtypen werden demnach angesehen: Typ «Entenvogel», Typ «Hühnervogel», Typ «Affe». Und natürlich Typ «Mensch», denn man kann vermuten, dass dem letztem Grundtyp das besondere Interesse der Kreationisten gilt: Der Mensch muss als Grundtyp gesondert geschaffen sein. Ansonsten machte das Bemühen um die Typen überhaupt keinen Sinn. Die Sonderstellung des Geschöpfes «Mensch» wäre sonst auch durch die Grundtypenlehre in Gefahr.
Grundlage für das Aufstellen der Grundtypen ist die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroevolution. Die Makroevolution wird von den neuen Kreationisten abgelehnt, da sie unbewiesen sei. Die Mikroevolution dagegen akzeptiert: Grundtypen variieren und wandeln sich zu nah verwandten Typen ab. Bisherige Belege für Evolution werden damit als Beleg für die Grundtypenhypothese beansprucht: Die Mutanten der Birkenspanner, die Zuchtrassen des Haushundes und die Entstehung verschiedener Arten der Darwinfinken werden kurzerhand gleichermaßen zu mikroevolutorischen Prozessen innerhalb der Grundtypenlehre erklärt.
Deutlich obsiegt in dieser Anschauung typologisches Denken über das für das Verständnis von Evolution entscheidende Populationsdenken. Für den Typologen sind die Typen real und die Varianten unerheblich. Für den Populationsdenker ist das Individuum real und die Variation das Entscheidende. Der Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution wird in der Typenlehre zu einer wesenhaften Verschiedenheit hypostasiert. In die so geschaffenen Lücken werden die Schöpfungsakte eingefügt.

Mikro- und Makroevolution. Evolutionstheoretisch gibt aber es den postulierten wesenhaften Unterschied zwischen Mikro- und Makroevolution nicht. Unterschiede bestehen allenfalls in der Quantität und dem Ausmaß ungeklärter Fragen, möglicher zusätzlicher evolutionärer Ursachen, nicht aber in der Qualität. Die Erkenntnis, dass es vorderhand keine Gründe gibt, das Variieren der Individuen auf ein angenommenes Artniveau zu beschränken, war eine der großartigen Leistungen von Darwin und Wallace bei der Entwicklung  der Evolutionstheorie.
Evolutionsbiologisch gibt es nur einen einzigen umfassenden Evolutionsprozess. Dort, wo auch in unseren Lehrbücher der Anschein eines wesenhaften Unterschiedes zwischen Mikro- und Makroevolution erweckt wird, sollten diese umgeschrieben werden.
Denn tatsächlich gibt es keine empirische Basis für das Aussondern von Grundtypen aus den Linien stammesgeschichtlicher Verwandtschaft. Bei der Rekonstruktion von Stammbäumen aufgrund von DNA-Analysen ergibt sich z. B. kein molekularer Sprung oder chemischer Hiatus zwischen angenommenen Grundtypen und weiter entfernten Formengruppen. Alle Untersuchungen weisen vielmehr auf eine allgemeine Verwandtschaft aller Lebewesen hin. (Das angesichts dieser Tatsache eingeführte Hilfsargument der Kreationisten, der Schöpfer habe eben mit "Blaupausen" gearbeitet und einmal erfundene Konstrukte mehrmals verwendet, kann selbstverständlich die These von den Grundtypen auch nicht stützen, da es beliebig variiert werden kann und somit alles und nichts erklärt.)

Konvergenz und Divergenz. Noch vielmehr widerspricht die Tatsache, dass sehr nah verwandte Lebewesen ganz unterschiedlichen «Typen» angehören können dem Grundtypenkonzept. So würde man ohne weitere Überlegung die neuweltlichen und die altweltlichen Bartvögel für ein und denselben «Grundtyp» halten (und vielleicht sind sie auch kreuzbar?). Die Tukane hingegen sehen ganz anders aus. Tatsächlich hat man Bartvögel und Tukane auch als verschiedene Familien derselben Ordnung unterschieden. Doch DNA-Vergleiche zeigen deutlich: Neuweltbartvögel sind mit den Tukanen näher verwandt als mit den Altweltbartvögeln. Das Phänomen der Divergenz der Arten hat schon Darwin als ein Prinzip der Evolution herausgestellt. Typologisches Denken muss es verwirren. Sollen nun alle Bartvögel und Tukane einen Grundtyp darstellen, auch wenn sie sie sich (ganz sicher) nicht kreuzen lassen?  Und hier wird schließlich auch das ureigenste Interesse der Grundtypenlehre widerlegt: Nach DNA-Untersuchungen sind Mensch und Schimpanse näher miteinander verwandt als beide mit Gorilla oder gar Orang-Utan. Schimpanse und Mensch unterscheiden sich in ihrer DNA nicht mehr als es sonst bei Zwillingsarten feststellbar ist. Der Mensch ist danach keinesfalls ein eigener «Grundtyp», sondern lediglich ein divergent entwickelter afrikanischer Menschenaffe.
Die Grundtypenlehre wird jedoch auch von Biologen vertreten. Die biologisch belegbaren Ergebnisse, wie die unterschiedliche Kreuzbarkeit von Individuen nah verwandter Gruppen, sind aber zwanglos evolutionstheoretisch zu deuten und zu verwerten. Die Annahme von Schöpfungsakten liegt außerhalb naturwissenschaftlicher Methodik.
Lohnt es überhaupt, ernsthaft auf Thesen einzugehen, die eigentlich auf außerwissenschaftliche Anschauungen zielen? Der evolutionsbiologische Ertrag ist sichtbar: Die Untauglichkeit typologischen Denkens zur Erklärung von Evolutionsprozessen verweist auf das populationsbiologische Denken als der eigentlichen Grundlage der Evolutionsbiologie (s. Schwerpunkt Evolution). Und die Erscheinung der Divergenz erweist sich als evolutionsbiologisch ebenso interessant und fruchtbar, wie die in unseren Lehrbüchern häufig allein betrachtete Erscheinung der Konvergenz. 
Beachten wir künftig also beide Seiten: Konvergenz und Divergenz, Ähnlichkeit und Abweichung. Typen existieren nur in unseren Köpfen: Die Divergenz stammesgeschichtlich nächst verwandter Formen ist ein wichtiges Argument dagegen, aus Typen biologische Gesetzmäßigkeiten herzuleiten.

Zum Weiterlesen:

Kattmann, U. (2019). Naturgeschichte der Wirbeltiere (Reihe Neue Wege in die Biologie). Seelze: Friedrich.

Hörsch, C. (2004). Wie ist die Welt entstanden? Kreationismus du Evolutionstheorie in amerikanischen Schulen. In: H. Gropengießer, A. Janßen-Bartels & E. Sander (Hrsg.). Lehren fürs Leben (S. 180-189). Köln: Aulis

Kattmann, U.: Zum Umgang mit kreationistischen Vorstellungen. 7 Leitlinien für den Biologieunterricht.

Kattmann, U. (2008). Evolution & Schöpfung. Kompakt. Unterricht Biologie 333 

Kattmann, U. (1998). Schöpfung und Evolution (Unterrichtseinheit). In: R. Hedewig, U. Kattmann & D. Rodi (Hrsg.), Evolution. Handbuch des Biologieunterrichts Sekundarbereich 1 (S. 33-53). Köln: Aulis

Kattmann, U., Janßen-Bartels, A., Müller, M. (2005). Warum gibt es Säugetiere? Unterrichtsmodell für die Klassenstufe 6 und 7. Unterricht Biologie 28 (307/308), 18-23

Kattmann, U. (2007). Fortschritt und Richtung in der Evolution? In U. H. J. Körtner & M. Popp (Hrsg.),Schöpfung und Evolution - zwischen Sein und Design (S. 89-112). Wien, Köln, Weimar: Böhlau. 

Ulrich Kattmann (Stand: 20.06.2024)  | 
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