Hurricanes und ihre Folgen sind derzeit in den Nachrichten allgegenwärtig. Historikerin Annika Raapke zeigt auf, wie unterschiedlich Menschen in verschiedenen Epochen mit den Wirbelstürmen umgegangen sind. Ein Gastbeitrag.
„Bäume sind entwurzelt, Dächer abgerissen… es ist eine traurige Wiederholung der tragischen Szenen, die sich im vergangenen Jahr vor unseren Augen abgespielt haben.“ Ein Zitat, dessen Wortwahl sich mit einer Vielzahl aktueller Hurricane-Berichte deckt. Und doch ist dies kein Zitat aus der vergangenen Woche. Es stammt aus einer Ausgabe der örtlichen Gazette der Karibikinsel Martinique vom 19. Oktober 1780 und beschreibt den sogenannten „Großen Hurricane“, der bis heute als einer der schwersten Wirbelstürme überhaupt betrachtet wird. Um den 11. Oktober 1780 traf er auf Barbados im Südosten der Karibik und fraß sich dann im Laufe einer Woche gen Nordwesten bis zur heutigen Dominikanischen Republik. Mindestens 22.000 Menschen, so schätzen Historiker, verloren damals ihr Leben.
Extreme Windereignisse sind ein fester Teil des meteorologischen Jahresablaufs in der Karibik. Die einheimischen Völker der Inselkariben und Taino, sowie der K’iche‘ Maya auf den heute mittelamerikanischen Festlandgebieten der Karibikregion, wussten die Stürme als Teil ihrer Lebenswelten sinnhaft zu interpretieren. Aus ihren Sprachen stammt auch das Wort „Hurricane“.
Für die K’Iche‘ Maya war Hurakán, das „Herz des Himmels“, der Gott des Windes, des Sturms und des Feuers und einer der mächtigen „Schöpfergottheiten.“ Bei den Taino hingegen war der huracán keine Gottheit selbst, sondern mag eine Bezeichnung für den Sturm gewesen sein, den der weibliche Geist Guabancex schickte, wenn er erzürnt war. In Abbildungen erschien Guabancex als personifizierter Wirbelsturm: Ihr Kopf war im Zentrum des Sturms, ihre Arme symbolisierten die tobenden Winde. Die Inselkariben lasen im Hurricane den Zorn des Gottes Maboya, den es mit Gebeten zu beschwichtigen galt.
Für die einheimischen Bevölkerungen der Karibik waren Stürme verständliche göttliche Äußerungen zu ihrem Lebenswandel. Sie erfolgten als Straf- und Ordnungsmaßnahmen. Die Zerstörungen, die sie brachten, wurden als schmerzhafte, aber notwendige Auslöschungen der bestehenden Welt zugunsten von neuer Schöpfung betrachtet. Der Historiker Matthew Mulcahy berichtet, dass einige Kariben die zunehmenden Hurricanes zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Strafe dafür interpretierten, dass sie sich auf zu viel Kontakt mit den Europäern eingelassen hatten.
Im 17. Jahrhundert begannen Europäer nach und nach, die karibischen Inseln zu besetzen. Schrittweise entrissen sie den Taino und Inselkariben ihre Gebiete, töteten oder vertrieben sie, bis schließlich im 18. Jahrhundert nur noch auf sehr wenigen Inseln kleine Gruppen von ihnen übriggeblieben waren. In den geraubten Gebieten etablierten die Europäer produktive Plantagenkomplexe. Eine immense Anzahl brutal unterdrückter Sklaven, die die Europäer aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern in die Karibik bringen ließen, musste dort in mühsamster körperlicher Arbeit Kaffee, Indigo, Kakao und vor allem Zucker anbauen.
In dieser Welt, die der Historiker Sidney W. Mintz als einen praktisch industriellen Komplex beschrieben hat, gab es für die Hurricanes keinen sinnhaften Platz. Zwar wurden auch im Europa des 18. Jahrhunderts Naturkatastrophen sehr häufig als Strafen Gottes gelesen. Doch in der europäisch-christlichen Vorstellung erfolgten göttliche Strafen spontan, als unmittelbare Reaktionen auf Verfehlungen der Menschen. Die Regelmäßigkeit der karibischen Hurricanes ließ sich damit nicht vereinbaren. Und obwohl die meisten Europäer in der Karibik die Hurricanes nach wie vor als Teil der göttlichen Schöpfung, oder auch direkt als Handlungen Gottes betrachteten, blieben ihr Sinn und ihre Bedeutung oft unklar und mussten intensiv debattiert werden.
Die Erklärungen der karibischen Völker jedoch wurden als heidnischer Aberglaube abgetan, und auch ihre Expertise im Umgang mit den Hurricanes vernachlässigt, etwa bei der Konstruktion von Bauwerken. Wohlhabende Europäer beharrten immer wieder darauf, Häuser nach europäischem Vorbild zu bauen, die völlig ungeeignet waren, einen tropischen Wirbelsturm zu überstehen - und die im Falle eines Sturms leicht zur Todesfalle werden konnten. Tausende „Seelen liegen unter den Trümmern begraben“ schrieb eine Französin aus Guadeloupe nach dem „Großen Hurricane“ in einem Brief an ihre Schwester in Frankreich. Immer wieder wurden die Inseln, die nun Kolonien waren, auf diese Weise in Wüsten der Zerstörung verwandelt, und mussten über Jahre hinweg kostspielig wieder aufgebaut werden.
Die Kolonisierung der Karibik bedeutete eine massive Veränderung der gesamten Region – ihrer Bevölkerung und Kulturen, ihrer Landschaften, und sogar ihre Stürme. Das Verständnis dessen, was ein Hurricane ist, definiert, wie man ihm begegnet. Die Taino und Inselkariben fürchteten die Stürme. Aber sie wussten auch, wie sie zu interpretieren waren. Die Zerstörungen, wenngleich schmerzlich, hatten einen Sinn. Sie standen nicht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Ordnung, sondern waren ein Teil von ihr. Das Leben war so eingerichtet, dass es leicht vom Sturm davongeweht, aber auch schnell wieder aufgebaut werden konnte.
Den europäischen Kolonisten hingegen blieben die Stürme trotz aller Beobachtung und Auseinandersetzung fremd. Ihre Erklärungsversuche blieben widersprüchlich, und ihre Vorbereitungen ineffizient und oft unlogisch. Und so wurden Stürme wie der „Great Hurricane“ von 1780 für die meisten Bewohner der Karibikkolonien zu reinen „Naturkatastrophen“, zu Ereignissen letztendlich sinnloser Zerstörung.