Kann Musik die Lebensqualität von Menschen mit Bewusstseinsstörungen verbessern? Die Wissenschaftlerin Teresa Grimm hat diese Frage in ihrer Promotion aus verschiedenen Perspektiven untersucht.
Die Signale sind äußerst subtil: Der Atemrhythmus der Patientin beschleunigt sich und ihr Herzschlag wird schneller. Wie schlafend liegt sie da, während eine Musiktherapeutin eine ruhige Melodie summt. Doch die die Therapeutin nimmt die kaum merkliche Reaktion wahr und verändert das Musizieren. Sie passt den Rhythmus ihrer Melodie an die Atmung der Patientin an und berührt sie sanft am Arm, um Kontakt aufzunehmen. Schließlich legt sie eine Rassel in die Hand der Patientin und bewegt ihren Arm vorsichtig im Einklang mit den Tönen.
„Es wird immer wieder berichtet, dass Menschen, die von schweren Bewusstseinsstörungen betroffen sind, durch Musik zu Verhaltensänderungen angeregt werden, dass sie etwa blinzeln oder Kaubewegungen ausführen, manchmal auch Arme und Beine bewegen“, berichtet Dr. Teresa Grimm. Systematische Studien dazu, wie Musik oder Musiktherapie auf diese Patientinnen und Patienten wirken, sind allerdings rar.
Das ist wenig verwunderlich: „Die Betroffenen können nichts zu ihren Empfindungen sagen, nur in sehr seltenen Einzelfällen können sich Patienten im Nachhinein an die Musiktherapie erinnern. Es wird daher in gewisser Weise fast immer ein Geheimnis bleiben, wie sie die Musik subjektiv wahrnehmen“, sagt Grimm. Doch gerade weil es möglich sei, dass diese Menschen mehr von ihrer Umgebung mitbekommen als es nach außen den Anschein hat, hält es die Wissenschaftlerin für ethisch geboten, zur Steigerung der Lebensqualität dieser Menschen beizutragen. In ihrer Promotion am Institut für Musik befasste sie sich deshalb mit der Wirksamkeit musikalischer Interventionen bei dieser Personengruppe.
Betroffene können von Musiktherapie profitieren
Betreut wurde das Projekt durch den Musikwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Kreutz. Die medizinische Beratung übernahmen Prof. Dr. Andras Zieger, ehemaliger Chefarzt der Klinik für Neurologische Frührehabilitation im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg und sein Nachfolger Dr. Martin Groß. Ein Teil des Projekts wurde am Evangelischen Krankenhaus durchgeführt, wo Zieger erstmals die Musiktherapie etabliert hatte.
Eine durch eine schwere Schädigung des Gehirns verursachte Bewusstseinsstörung kann in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen. Generell sind die Betroffenen vollständig von Hilfe abhängig und nicht in der Lage, verbal zu kommunizieren. Manche befinden sich jedoch nicht in einem vollständigen, tiefen Koma, sondern haben einen Schlaf-Wach-Rhythmus, öffnen hin und wieder ihre Augen oder reagieren auf Reize. Diese Formen der Bewusstseinsstörung werden als Syndrom reaktionsloser Wachheit oder Minimaler Bewusstseinszustand bezeichnet. Bei manchen der Betroffenen bessert sich der Zustand im Laufe der Zeit, einige erlangen sogar das Bewusstsein wieder.
Um möglichst viele Indizien dafür zu sammeln, wie Musik die Lebensqualität dieser Menschen beeinflusst, näherte sich Grimm dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven: Sie führte zunächst eine Literaturstudie durch, um einen Überblick über den Stand der Forschung zu erhalten. Bereits hierbei fand sie Hinweise darauf, dass Patientinnen und Patienten von Musik profitieren können: Verschiedene positive Effekte – zum Beispiel vermehrtes Augenzwinkern, veränderte Gesichtsausdrücke, ein tieferer Atem oder eine Veränderung des Herzschlags – wurden systematisch in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben. Einzelne Studien beobachteten sogar verstärkte Gehirnaktivitäten.
Die Stimme ist das bevorzugte Instrument
Im zweiten Teil ihres Promotionsprojekts widmete sich Grimm der Musiktherapie. In einer Interviewstudie fand sie heraus, dass die Behandlungskonzepte sehr individuell sind. Die meisten Therapeutinnen und Therapeuten ziehen selbst gespielte Musik aufgenommener Musik vor, um mehr Nähe zu den Betroffenen herzustellen. Oft beginnen sie die Therapie mit einer Berührung oder einem Lied und stellen sich interaktiv auf die körperlichen Signale ihrer Patienten ein. Ihr bevorzugtes Instrument ist die Stimme, weil sich darüber emotionale Zuwendung und Verbundenheit besonders gut herstellen lassen. Zu den verwendeten Musikinstrumenten zählen zum Beispiel Gitarren, kleine Harfen, Kalimbas oder Klangschalen.
Die Therapeutinnen und Therapeuten empfehlen außerdem, die Patienten nicht dauerhaft mit Musik zu beschallen, etwa aus dem Radio, um eine Überstimulation zu vermeiden. Selbst Musikstücke, die die Betroffenen in ihrem früheren Leben gerne mochten – sogenannte biographische Musik – sollten ihrer Ansicht nach möglichst nur in Begleitung von Fachkräften oder engen Angehörigen abgespielt werden.
Sprachaufnahmen zeigten eine stressreduzierende Wirkung
In ihrem dritten Teilprojekt führte Grimm eine Interventionsstudie durch, bei der sie die körperliche Wirkung von biographischer Musik und biographischer Sprache – etwa von Hörbüchern oder Ausschnitten aus Fernsehsendungen – auf 20 Patientinnen und Patienten untersuchte. Neben Daten zu Funktionen wie Herzschlag, Sauerstoffsättigung und elektrischer Muskelaktivität oberhalb der Augenbrauen wurden bei der Untersuchung auch vier Speichelproben genommen. Darin bestimmten die Forschenden den Spiegel mehrerer Hormone, darunter des Stresshormons Cortisol.
„Bei Menschen, die keine Bewusstseinsstörung haben, konnte in einer Studie gezeigt werden, dass Cortisol im Speichel signifikant sinkt, wenn sie die Musik zur Entspannung hören“, berichtet Grimm, die inzwischen in der Klinik für Neurologische Intensivmedizin und Frührehabilitation des Evangelischen Krankenhauses in Oldenburg forscht. Bei Menschen mit Bewusstseinsstörungen wurden derartige Messungen bislang noch nicht durchgeführt. In Grimms Studie ergab sich ein interessantes Ergebnis: Biographische Musik senkte den Cortisolspiegel bei den Patientinnen und Patienten zwar nicht signifikant – dafür hatten jedoch die Sprachaufnahmen eine stressreduzierende Wirkung. Bei den anderen Hormonen zeigten sich keine Veränderungen. Die Ergebnisse der Teilprojekte veröffentlichte Grimm mit ihren Kollegen in mehreren Fachartikeln.
Dass Musikinterventionen ein wichtiger Bestandteil zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit neurogenen Bewusstseinsstörungen sein können, dessen ist sich Grimm inzwischen sicher – auch wenn die Reaktionen der Patienten oft tatsächlich nur subtil sind. Es kommt allerdings auch vor, dass ein Patient während einer Therapiestunde erstmals die Augen öffnet oder sogar Blickkontakt aufnimmt. Zuweilen sind solche Reaktionen ein Vorbote möglicher Verbesserungen, die dauerhaft bestehen bleiben.