Ressourcen sparsam zu verwenden und die Umwelt zu schützen ist in der Praxis oft schwieriger als in der Theorie. Das Projekt „Dilemmata der Nachhaltigkeit“ untersucht, welche Spannungsfelder bestehen.
Forschungsprogramme und Projekte sind eher selten selbst Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Für Sophie Berg und Ann-Kristin Müller bilden Ausschreibungen und Anträge jedoch eine wichtige Fundgrube: Die Wirtschaftswissenschaftlerin und die Erziehungswissenschaftlerin haben im Rahmen ihrer Promotionen hunderte von Seiten durchforstet, nach Begriffen gesucht und Kategorien entwickelt. Ihr Ziel: herauszufinden, wie der Begriff „Nachhaltigkeit“ in wissenschaftlichen Förderprogrammen verstanden wird – ob es etwa nur um naturwissenschaftliche und technologische Fragen geht oder auch gesellschaftswissenschaftliche oder politische Aspekte vorkommen. „Nachhaltigkeit hat eine vielschichtige Bedeutung, wird aber oft eher eindimensional betrachtet“, sagt Berg, die an der Universität Oldenburg als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Ökologische Ökonomie forscht.
Die Arbeit der beiden Doktorandinnen ist Teil des Projekts „Dilemmata der Nachhaltigkeit“, das der Oldenburger Nachhaltigkeitsexperte Prof. Dr. Bernd Siebenhüner koordiniert. Seit Anfang 2019 fördern das Niedersächsische Wissenschaftsministerium und die VolkswagenStiftung das Verbundprojekt. In dem Vorhaben untersuchen Forscherinnen und Forscher der Universitäten Oldenburg, Braunschweig, Passau sowie des Instituts für sozialökologische Forschung in Frankfurt gemeinsam, welche Spannungsfelder sich in der Diskussion um Nachhaltigkeit und ihrer wissenschaftlichen Untersuchung auftun.
„Unser Ziel ist es, Meta-Kriterien zu finden, um transparent zu machen, wie Projekte, Programme und Initiativen mit dem Konzept und den darin liegenden Dilemmata umgehen – und ob es in Zukunft andere Evaluationskriterien braucht als bislang“, erläutert Siebenhüner. Um die verschiedenen Dimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs zu erfassen und zu reflektieren, setzt sich das Projektteam interdisziplinär zusammen. Die Forschenden kommen aus den Bildungswissenschaften, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, aus der Soziologie und der Wissenschaftsphilosophie zusammen. Beteiligt ist auch der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Karsten Speck.
Wie definieren Forschungprogramme Nachhaltigkeit?
Die Grundidee der Nachhaltigkeit, erläutert Siebenhüner, beruhe auf der Maxime, heute nicht auf Kosten zukünftiger Generationen oder auf Kosten von Menschen in anderen Regionen der Erde zu leben. Die Menschheit müsse folglich sparsamer und anders mit ihren Ressourcen umgehen. In der Praxis ergeben sich oft Schwierigkeiten, wenn es darum geht, das Wirtschaften nachhaltig auszurichten. Vielen bekannt ist beispielsweise das „Tank-oder-Teller-Problem“: Biokraftstoffe gelten als nachhaltig, weil sie fossile Rohstoffe ersetzen. Gleichzeitig nimmt ihr Anbau Land in Beschlag, auf dem sonst Lebensmittel wachsen können.
Solche Dilemmata stehen im Mittelpunkt des Projekts. Das Team der Universität Oldenburg hat dabei den empirischen Part übernommen: Sophie Berg und Ann-Kristin Müller fahnden in Forschungsprogrammen etwa nach Hinweisen auf unterschiedliche Ökonomieverständnisse und arbeiten heraus, welche Strategien die Forschungsförderer verfolgen. Die Doktorandinnen gehen dabei nach der sogenannten „Grounded Theory“ vor. Diese sozialwissenschaftliche Methode eignet sich, um aus Dokumenten qualitativ in mehreren Schritten eine Theorie zu entwickeln. In diesem Fall ermittelten die Forscherinnen, wie die Programme Nachhaltigkeit als Forschungsziel definieren. Sophie Berg legt zusätzlich ein besonderes Augenmerk auf Dilemmata beim Thema Gender und Geschlechtergerechtigkeit, Ann-Kristin Müller bezieht den Aspekt Bildung mit ein.
Themen wie Geschlechtergerechtigkeit von vorneherein mitdenken
Auch diese Themen gelten heute vielfach als wichtiger Teil einer nachhaltigen Entwicklung, sie sind etwa als Punkte in den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen enthalten. In der Praxis rücken sie aber oft in den Hintergrund, so ein erstes Ergebnis der Untersuchungen: Bei ihrer Analyse der Programmlinien haben Berg und Müller festgestellt, dass Geschlechtergerechtigkeit bislang kein essentieller Bestandteil in den Ausschreibungen war, auch Bildung zur Nachhaltigen Entwicklung spielte kaum eine Rolle. Vielmehr bezogen sich die meisten Forschungsförderer nach wie vor auf die ursprüngliche, eher technologisch geprägte Definition der Nachhaltigkeit. Eine mögliche Ursache dafür, dass soziale Fragen bislang nur nachrangig behandelt wurden: „Diese Themen zu berücksichtigen scheint die Lösung von Problemen oft noch schwieriger zu machen“, berichtet Berg. Dennoch sollten aus ihrer Sicht auch von vorneherein mit bedacht werden. Dies führe dazu, dass sich mögliche Lösungen besser in der Gesellschaft verankern lassen, ist die Ökonomin überzeugt
In einem nächsten Schritt haben die beiden Wissenschaftlerinnen eine Reihe von Leitfaden-Interviews mit Verantwortlichen und Mitarbeitenden von insgesamt 18 Forschungsprojekten durchgeführt. Sie wollen dabei herausfinden, ob zwischen den Beteiligten in den transdisziplinären Projekten Spannungen oder Widersprüche sichtbar werden, etwa weil sie unterschiedliche Wissensstände haben oder verschiedene Vorstellungen davon, was Nachhaltigkeit überhaupt ist.
Am Ende des Projekts will das Team Orientierungspunkte und Denkanstöße für zukünftige Förderprogramme und Forschungsprojekte liefern. „Auch in der Wissenschaft sollten wir das Thema Nachhaltigkeit in größeren systemischen Zusammenhängen denken“, sagt Berg. Das Bewusstsein dafür, neben technischen auch die sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit zu berücksichtigen, sei in letzter Zeit gewachsen, meint auch Siebenhüner. „Bei der Wissensproduktion sollten wir allerdings anstreben, uns nicht nur auf Erkenntnisse aus der Forschung zu beziehen, sondern auch Alltagswissen zu integrieren und konkrete Problemlösungsansätze zu entwickeln“, betont er. Die im Projekt entwickelten Kriterien können helfen, diese Ziele zu erreichen.