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Im Meer der Moleküle
In den Weltmeeren sind Millionen verschiedener organischer Verbindungen gelöst. Diese Stoffe binden große Mengen an Kohlenstoff - manche über Jahrtausende. Welche Rolle spielen sie im globalen Kohlenstoffkreislauf und damit für unser Klima?
In der Welt der offenen Ozeane gibt es scheinbar wenig von Bestand. In der sonnendurchfluteten obersten Wasserschicht wandeln mikroskopisch kleine Algen Kohlendioxid und Wasser mithilfe von Licht in Biomasse um. Einzelne Zellen verschwinden schon nach wenigen Stunden oder Tagen wieder. Andere Kleinstlebewesen ernähren sich von ihnen, Mikroorganismen wie Bakterien zersetzen sie. Während die mächtigen Stämme von Bäumen an Land Jahrhunderte bis Jahrtausende überdauern können, bleibt von den winzigen Bewohnern des freien Wassers kaum etwas übrig. Für Seereisende zu sehen ist meist nur das unendliche Blau.
Doch in Wirklichkeit hinterlässt auch das Leben im Meer langlebige Spuren. Von der Oberfläche bis in die Tiefsee, von den Polarregionen bis zu den Tropen, vom Wattenmeer bis zum Meeresboden sammelt sich eine unsichtbare Mischung von Molekülen an: das gelöste organische Material. Ein Milligramm der wasserlöslichen kohlenstoffhaltigen Verbindungen findet sich im Durchschnitt in jedem Liter Meerwasser. Hochgerechnet auf das Gesamtvolumen der Ozeane binden diese rund 700 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – mehr als alle Lebewesen im Meer und an Land zusammen und etwa ebenso viel wie das Kohlendioxid (CO2) der Atmosphäre.
Ein Teil dieses gigantischen Kohlenstoffreservoirs ist erstaunlich beständig: „Die ältesten Moleküle sind über 10.000 Jahre alt“, sagt Prof. Dr. Thorsten Dittmar. Damit tragen die Verbindungen dazu bei, dass ein Teil des organischen Kohlenstoffs aus dem Meer nicht unmittelbar als CO2 wieder in die Atmosphäre entweicht. Forschende vermuten, dass dieser Puffer eine wichtige Rolle dabei spielen könnte, den natürlichen CO2-Anteil in der Luft und damit das Klima auf der Erde zu regulieren.
Wir sind von Milliarden von Molekülen umgeben, die wir noch nicht kennen
Doch bisher ist nicht genau bekannt, ob und wie das gelöste organische Material unser Klima auf einer Zeitskala von Jahrhunderten bis Jahrtausenden beeinflusst. „Und wir wissen nicht, welche Prozesse die Größe des Kohlenstoffreservoirs steuern – und wie sich umgekehrt der Klimawandel auf das gelöste organische Material auswirken könnte“, sagt Dittmar, der in Oldenburg seit 2008 die Brückengruppe „Marine Geochemie“ des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) und des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie leitet. Gängige Klimamodelle berücksichtigen das gelöste organische Material daher bisher nicht.
Seit mehr als hundert Jahren ist bekannt, dass es die Substanzen gibt. Bekannt ist auch, dass einzellige Algen und andere Mikroorganismen gelöstes organischen Material ausscheiden, etwa als Stoffwechselprodukte oder wenn sie absterben. Doch aus welchen chemischen Verbindungen das Material besteht, war lange unklar. Es fehlte an geeigneten analytischen Methoden. „Wir sind von Milliarden von Molekülen umgeben, die wir noch nicht kennen, die aber die Bewohnbarkeit unseres Planeten steuern“, sagt Dittmar.
Die Moleküle zu kennen, ist entscheidend, um das, was mit ihnen geschieht, zu verstehen. Nur so können Forschende die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen und ihrer Umwelt mit mathematischen Modellen beschreiben und damit die Grundlage für globale Klimamodelle liefern. Liegt es in der Struktur der Verbindungen begründet, dass ein Teil von ihnen Jahrtausende überdauert?
Mit fortschrittlicher Technologie auf der Suche nach dem Unbekannten
Vor gut zwanzig Jahren begannen Forschende erste Antworten zu finden. An der Florida State University, wo Dittmar als Assistenzprofessor forschte, untersuchte er mit dem dortigen Team erstmals Meeresproben mit einem neuartigen Gerät. Mittels der sogenannten ultrahochauflösenden Massenspektrometrie bestimmten die Forschenden die Massen der organischen Moleküle – und fanden tausende unterschiedliche. Das sei sein persönlicher Heureka-Moment gewesen, sagt Dittmar. Die Ergebnisse spiegelten die enorme molekulare Vielfalt des gelösten organischen Materials wider, die zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war.
Für Dittmar ein Ansporn, seine Forschung zu vertiefen, auch wenn es zunächst langsam voranging: Die Auswertung der Daten, die das Massenspektrometer lieferte, dauerte Monate. Inzwischen ist der Geochemiker weiter: In seinem Oldenburger Labor steht das leistungsfähigste ultrahochauflösende Massenspektrometer der Meeresforschung weltweit. Dieses bestimmt Molekülmassen so genau, dass sich Summenformeln ableiten lassen – sich also sagen lässt, wie viele Atome der jeweiligen Elemente, etwa Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff, in einer Verbindung vorhanden sind. Die Daten können die Forschenden dank der Zusammenarbeit mit Mathematikern am ICBM und der Rechenleistung moderner Computer innerhalb von Minuten auswerten.
Die Ergebnisse zeigen: Jeder Liter Meerwasser enthält Millionen verschiedener Substanzen. Die genaue Menge lässt sich kaum einschätzen, denn hinter jeder Summenformel – darauf deuten weitere Experimente hin – stecken wahrscheinlich viele verschiedene Molekülstrukturen. Ein anderes Verfahren, die Kernspinresonanzspektroskopie, zeigt, wie einige der Elemente in den Molekülen miteinander verbunden sind und liefert damit Hinweise auf die Molekülstruktur. Derzeit richtet Dittmars Arbeitsgruppe ein neues Labor ein, das künftig ein entsprechendes Großgerät beherbergen wird.
Vermutlich spielen im Meeresboden ähnliche Prozesse wie in der Wassersäule eine Rolle
All die Daten liefern einen Einblick in die vielfältige Welt der langlebigen organischen Moleküle. In dieser Welt spielen Mikroorganismen nicht nur eine entscheidende Rolle als Quelle von CO2, sondern auch beim Speichern: Sie nehmen organisches Material auf und brechen mithilfe ihrer Werkzeuge, hochspezifischer Enzyme, bestimmte Molekülbindungen auf und setzen neue Substanzen frei. Welche Mikroorganismen daran beteiligt sind und über welche Enzyme sie verfügen, daran forschen auch die mikrobiologischen Arbeitsgruppen in Oldenburg und Bremen, mit denen Dittmar eng zusammenarbeitet.
Bereits ein vergleichsweise einfaches Experiment, das die Forschenden im kürzlich beendeten Oldenburger Sonderforschungsbereich Roseobacter durchführten, zeigt, wie komplex die Wechselwirkungen zwischen den Mikroorganismen und Molekülen sind: Demnach scheidet eine einzige Bakterienart, die sich in einer Kultur nur von einem bestimmten Zucker ernährt, bereits zehntausende, größtenteils unbekannte Substanzen aus.
Aus solchen Experimenten und Beobachtungen schließen die Forschenden, dass die langlebigen Substanzen eine Art molekularer Abfall sind, die bei enzymatischen Abbauprozessen anfallen. „Die Zellen scheiden diese aktiv aus, weil sie sie nicht nutzen können“, erläutert Dittmar. Einer Hypothese zufolge sammeln sich manche der Substanzen an, weil sie aufgrund ihrer Struktur schlicht nicht weiter abgebaut werden können. Gegen diese These spricht allerdings, dass es kaum Substanzen auf dem Globus gibt, die Mikroorganismen nicht verarbeiten können.
Die Forschenden vermuten daher, dass es einen weiteren Grund gibt, warum vor allem Mikroorganismen in der Tiefsee paradoxerweise das reichhaltige Nahrungsangebot nicht nutzen. Demnach entstehen durch Aufnehmen, Verarbeiten und Ausscheiden immer mehr neue Verbindungen in immer geringeren Konzentrationen. Für die Mikroorganismen wird es schlicht immer unwahrscheinlicher, trotz der Fülle der Moleküle diejenigen aufzuspüren, die sie verarbeiten können.
Mathematische Modelle für ein besserer Verständnis
Die Arbeiten von Prof. Dr. Sinikka Lennartz stützen diese These. Die Oldenburger Juniorprofessorin für Biogeochemische Ozeanmodellierung erstellt Netzwerkmodelle, die – stark vereinfacht – die Wechselwirkungen so beschreiben: Ein Organismus im Netzwerk nimmt eine bestimmte Substanz auf und scheidet zwei andere aus. Ein anderer Organismus wählt nur eine der beiden Substanzen und entlässt zwei andere ins Wasser, von denen ein dritter Organismus wiederum nur eines weiterverarbeitet – und so weiter. Ein solches Netzwerkmodell liefert Ergebnisse, die „der mittleren Konzentration und dem mittleren Alter des gelösten organischen Materials im realen Ozean ziemlich nahekommen“, sagt Lennartz.
Entscheidend ist nach Ansicht der Forschenden also, wie Organismen und Moleküle in ihrer natürlichen Umwelt zusammenwirken. Dittmar spricht von der „Ökologie der Moleküle“. Und diese spielt nicht nur im offenen Ozean eine Rolle: Auch im Meeresboden finden sich mancherorts große Mengen des langlebigen gelösten organischen Materials. Die Arbeitsgruppe des Geochemikers erforscht als Teil des Exzellenzclusters Ozeanboden an der Universität Bremen das Wechselspiel zwischen gelöstem Material und kohlenstoffhaltigen Substanzen, die in Partikeln zu finden sind.
„Vermutlich spielen im Meeresboden ähnliche Prozesse eine Rolle wie in der Wassersäule“, sagt Dittmar – allerdings könnten diese noch komplexer sein. Das liegt unter anderem daran, dass allein die Struktur des Sediments Substanzen und Organismen räumlich voneinander trennt. Gemeinsam mit den Mikrobiologen wollen die Forschenden die Prozesse am Meeresboden und ihre Rolle im Kohlenstoffkreislauf noch genauer untersuchen und in einem künftigen gemeinsamen Exzellenzcluster die geologische Expertise der Bremer mit einer ökologisch-geochemischen kombinieren.
Dittmars Arbeitsgruppe ist zudem an vielen Oldenburger Forschungsprojekten beteiligt, die die flachen Meeresregionen in den Fokus nehmen. Auch hier sieht Dittmar Forschungsbedarf – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, ob ein ökologisches Management der Ökosysteme helfen könnte, dass diese künftig mehr Kohlenstoff als bisher speichern.
Die Prozesse, die im Kleinen stattfinden, lassen sich nicht einfach hochrechnen
Bei allen Vorhaben bleibt jedoch die Herausforderung: Die Prozesse, die im Kleinen stattfinden, lassen sich nicht einfach auf regionale oder sogar globale Skalen, etwa den Weltozean, hochrechnen. Zu komplex sind die Wechselwirkungen im mikrobiellen Netzwerk. Um aber letztlich die Frage nach der Rolle des gelösten organischen Materials im Kohlenstoffkreislauf und damit für unser Klima zu beantworten, ist genau dies nötig. Modelliererin Lennartz beispielsweise vereinfacht daher die Erkenntnisse aus den Detailstudien schrittweise, indem sie die wichtigsten Prozesse identifiziert und nur diese in größere Modelle integriert.
Mit diesem Ansatz gelingt es, großräumige Muster der Verteilung des gelösten organischen Materials im Ozean nachzuvollziehen. Die Forschenden wissen beispielsweise, dass sich gelöstes organisches Material in den nährstoffarmen Regionen der subtropischen Ozeane ansammelt. Vermutlich können Mikroorganismen die Substanzen nicht abbauen, da es ihnen für ihr Wachstum an anderen Nährstoffen wie Stickstoff oder Phosphor mangelt. „Berücksichtigen wir dies im Modell, können wir die beobachteten Muster reproduzieren und so große Kohlenstoff-Reservoirs in den Weltmeeren ausfindig machen“, erläutert Lennartz.
Im Zusammenspiel zwischen Messungen, Experimenten und Modellierungen nähern sich die Forschenden so Stück für Stück ihrem großen Ziel, das gelöste organische Material und die dazugehörigen Prozesse besser zu verstehen und in globale Klimamodelle zu integrieren. Denn angesichts der Größe des Reservoirs könnten sich selbst kleine Veränderungen stark auf die Fähigkeit des Meeres auswirken, das Treibhausgas CO2 zu speichern. Ob dies wirklich so ist, bleibt abzuwarten. Für Dittmar bleibt in jedem Falle eines: im Blau des Meeres die unsichtbaren Spuren des Lebens weiter zu ergründen.
Der Artikel ist zuerst im Forschungsmagazin EINBLICKE erschienen.
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