• Anatomin Anja Bräuer erforscht, welche Rolle Lipide bei der Hirnentwicklung und bei neurodengenertiven Erkrankungen spielen. Foto: Universität Oldenburg

Das Gehirn verstehen

Wie Gehirnzellen wachsen und sich verbinden, fasziniert die Anatomin Anja Bräuer immer wieder. Mit ihrer Forschung möchte sie die Grundlagen der Hirnentwicklung verstehen und Erkrankungen wie Alzheimer besser erkennen und behandeln können.

Auf den Rängen im Audimax der Universität rumort es, Kinderhände recken sich in die Höhe. Soeben hat Prof. Dr. Anja Bräuer gut 450 acht- bis zwölfjährigen Kindern mit Enthusiasmus erklärt, wie das Gehirn aufgebaut ist, wie sich Nervenzellen verknüpfen. Jetzt dürfen die Kinder Fragen stellen: Was passiert bei einer Gehirnerschütterung? Welches Lebewesen hat das größte Gehirn? Eine Herausforderung sei diese KinderUniversität gewesen, erinnert sich Bräuer später. „Mit so vielen Kindern hatte ich noch nicht zu tun“, sagt sie lachend.

Bräuer liebt Herausforderungen. Seit März 2017 leitet die 48-Jährige die Abteilung Anatomie der Fakultät VI – Medizin und Gesundheitswissenschaften der Universität und gehört zum Direktorat des Departments Humanmedizin. Ihren Traum, in die medizinische Forschung zu gehen, verwirklichte die studierte Biotechnologin schon während ihrer Promotion am anatomischen Institut der Berliner Charité. Bereits 2006 übernahm sie dort als Juniorprofessorin für Molekulare Neurobiologie kommissarisch die Leitung des anatomischen Lehrstuhls. Heute vertritt Bräuer die Anatomie in Forschung und Lehre in ihrer gesamten Breite. An ihrer Arbeit an der noch jungen Medizinischen Fakultät fasziniere sie besonders, dass sie ein Team aufbauen und neue Ideen verwirklichen könne.

Regeneration im Gehirn erforschen

Ihr Forschungsinteresse gilt dabei dem Gehirn – und den Prozessen, die die komplexen Hirnstrukturen entstehen lassen: „Wir haben noch nicht begriffen, wie sich dieses Organ entwickelt“, sagt Bräuer. Sie möchte verstehen, welche molekularen Mechanismen dazu führen, dass Nervenzellen wachsen und sich differenzieren, also ihre spätere Form und Funktion ausbilden. Wie findet eine Nervenfaser, ein Axon, den Weg genau zu der richtigen Zelle in der anderen Hirnhälfte und welche Moleküle steuern dies? Wie bilden sich funktionierende neuronale Netzwerke? Dabei will die Neuroanatomin auch herausfinden, wie sich Nerven- oder Hirngewebe nach Verletzungen erholen.

„Wir wissen, dass es Regenerationen im Gehirn gibt und wollen erforschen, welche Moleküle eine Rolle spielen und wie wir therapeutisch eingreifen können“, sagt sie. Die Bandbreite von Krankheiten, für die sich Bräuer und ihr Team interessieren, reicht von Demenzerkrankungen über Rückenmarksverletzungen bis zu seltenen Erkrankungen wie der Niemann-Pick-Krankheit (NPC). Diese Erkrankung, von der in Deutschland nur 500 bis 700 Fälle bekannt sind, ist auf einen einzelnen genetischen Defekt zurückzuführen, eine sogenannte Punktmutation. Aufgrund des Defekts sammeln sich Cholesterol und andere Lipide, also Fettsäuren, in den Körperzellen an, vor allem in bestimmten Regionen des Gehirns. „Die Betroffenen haben in sämtlichen Organen Ausfallserscheinungen und sterben früh“, erläutert Bräuer.

Rolle der Lipide beim Nervenwachstum

Von einem besseren Verständnis, wie NPC entsteht und wie sie behandelt werden kann, erhoffen sich die Neuroanatomin und ihr Team auch grundlegende Erkenntnisse über andere neurodegenerative Erkrankungen. Denn ebenso wie bei NPC reichert sich beispielsweise auch bei Alzheimer Cholesterol in kleinen Bläschen – den Lysosomen – in einer Zelle an. Zwar ist bei Alzheimer nicht nur ein einzelnes Gen für dies Symptom verantwortlich. Doch die Konsequenzen sind ähnlich: Das Cholesterol in den Zellen bringt diese letztlich zum Platzen, obwohl es eigentlich dafür sorgen soll, dass Neuronen wachsen und sich regenerieren können. „Wir wollen herausfinden, wie eine Zelle ihren Lipid-Haushalt reguliert, um funktionstüchtig zu sein – und so neue Therapiemöglichkeiten finden“, erläutert Bräuer.

Lange Zeit war Wissenschaftlern die wichtige Rolle der Lipide beim Nervenwachstum nicht bekannt. Denn Fettsäuren, wie beispielsweise Phospholipide, sind vor allem die wesentlichen Bausteine der Zellmembranen – also der Hüllen, die Zellen und ihre Untereinheiten umgeben. Hier übernehmen sie eine Barriere-Funktion. Doch 1996 fanden Wissenschaftler heraus, dass Lipide mehr können: Sie übermitteln auch Botschaften zwischen den Zellen. So docken Fettsäuren beispielsweise an bestimmte Moleküle an, sogenannte LPA-Rezeptoren, die sich außen an einer Zelle befinden, und übermitteln Signale ins Innere. „Seitdem wissen wir, dass die Moleküle die zellulären Prozesse steuern und beeinflussen“, erläutert Bräuer. Ein Grund, warum die Rolle der Lipide beim Wachstum von Nervenzellen und bei Erkrankungen des Gehirns in den Fokus der Forschung gerückt ist.

Ein neues Forschungsfeld

Dass die Wissenschaftlerin dies seit einigen Jahren untersucht, verdankt sie – wie so oft in der Wissenschaft – einem Zufall: Im Jahr 2003 fand sie gemeinsam mit Kollegen an der Charité durch Untersuchungen an Ratten eine Gruppe von Molekülen, die zu den sogenannten Phosphatasen gehören: Die Forscher konnten damals zeigen, dass diese Proteine im Hirngewebe bestimmte Phospholipide modifizieren können. Die Lipide wiederum hemmten das Wachstum von Nervenfasern. Das bis dahin unbekannte Gen, das den Bauplan für eines der Proteine enthält, konnten Bräuer und ihre Mitstreiter ebenfalls identifizieren. Sie nannten es „plasticity related gene“ (PRG), weil es vor allem in der Phase aktiv ist, in der das Gehirn sich ausbildet und reift sowie bei Verletzungen des Gewebes. Damit hatten die Wissenschaftler wichtige Hinweise auf den Einfluss der Lipide und die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Molekülen gefunden.

„Wir hatten etwas ganz Neues entdeckt, was sich bis dahin keiner vorstellen konnte“, sagt Bräuer. „Wir wussten zwar bereits, dass es anziehende und abstoßende Faktoren gibt, die das Nervenwachstum regulieren.“ Aber nach Lipiden hätten sie nicht gesucht – ein neues Forschungsfeld tat sich somit auf. Ein Problem, mit dem sich die Wissenschaftler damals konfrontiert sahen: Die meisten Labormethoden waren nicht darauf ausgelegt, die Rolle von Fetten zu untersuchen. „Lipide sind nicht einfach zu bearbeiten. Die verstopfen etwa die Membranen der Analysegeräte“, sagt Bräuer. Wissenschaft und Laborindustrie hätten zunächst neue Methoden entwickeln müssen.

Zusammenarbeit mit Klinikern wichtig

Inzwischen sind Bräuers Labore auf dem Campus Wechloy mit allen wichtigen Geräten für ihre Forschung ausgestattet. Neben dem PRG1, das die Wissenschaftler vor Jahren fanden, haben sie und andere mittlerweile weitere PRGs identifiziert. Um deren Rolle bei der Hirnentwicklung, beim Wachstum der Nervenfasern und bei Reparaturmechanismen weiter zu beleuchten, führen die Forscher verschiedene Untersuchungen durch, beispielsweise an Mäusen. Im Mikroskop beobachten die Forscher unter anderem Veränderungen im Hirngewebe. Zudem untersuchen sie, welche Rolle die PRGs bei der Entwicklung dendritischer Dornfortsätze der Hirnzellen spielen. Diese kleinen Ausstülpungen sind sehr wichtig für die Kommunikation der Nervenzellen über die Synapsen. Mediziner bringen nicht normal entwickelte Fortsätze mit Erkrankungen wie Autismus oder Schizophrenie in Zusammenhang. Auch um langfristig Querschnittslähmungen vielleicht sogar behandeln zu können, setzt Bräuer auf die PRGs: Bei einer Rückenmarksverletzung gebe es eine Narbe, die die Nervenfasern nicht überwinden könnten, erläutert sie. „Unsere Idee ist, kleine Brücken zu bauen, die wir mit Faktoren wie beispielsweise den PRGs, bestücken, damit die Axone dennoch wachsen können.“

Überhaupt endet die Forschung der Neuroanatomin nicht im Labor: „Für mich ist die Zusammenarbeit mit den Klinikern immens wichtig“, sagt Bräuer. So untersucht sie zusammen mit Prof. Dr. Stefan Teipel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock, ob Mediziner anhand von Phospholipiden etwa im Blut von Patienten bestimmte Degenerationen oder Entzündungen im Gehirn nachweisen können. Möglicherweise könnten die Moleküle dazu dienen, Erkrankungen wie Alzheimer früh zu erkennen. Denn sobald im Gehirn etwas degeneriert, also zerstört ist, sind auch die Lipidmembranen zerstört. Die Bruchstücke wollen die Forscher aufspüren.

3D-Technologien für ein europäisches Weiterbildungszentrum

An ihrer Arbeit an der Oldenburger Medizinischen Fakultät schätzt Bräuer, weitere neue Forschungsschwerpunkte entwickeln zu können. So will sie gemeinsam mit den Neurologen besser verstehen, welche zellulären Prozesse chronischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose zugrunde liegen. Eine andere Idee verfolgt sie gemeinsam mit Kollegen der Naturwissenschaftlichen Fakultät. Hier entwickeln physikalische Chemiker unter anderem 3D-Drucker, mit denen lebende Zellen gedruckt werden sollen. Ein fernes Ziel, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Chemikern, Psychologen, Informatikern und Maschinenbauern erfordere, sagt die Forscherin.

Bräuer ist auch eine begeisterte Hochschullehrerin, die Ausbildung der Studierenden liegt ihr am Herzen:  „Wenn ich die Studierenden vor mir habe, kann ich erklären, wie faszinierend das Gehirn und der gesamte menschliche Körper ist – dessen Entwicklung und dessen Potenzial, sich gegen Stress oder Krankheiten zu wehren.“ Eine wichtige Zukunftsaufgabe sieht Bräuer in der Digitalisierung der Lehre: Zwar könnten ein digitaler Präparier- oder Operationssaal die klassische anatomische Ausbildung nicht ersetzen, aber doch sinnvoll ergänzen – beispielsweise bei der Aus- und Weiterbildung von Kinderärzten. Bräuer plant daher gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Janniko Georgiadis vom University Medical Center Groningen eine „Anatomy and Surgical Academy“ aufzubauen. Ihr Ziel ist ein europäisches Weiterbildungszentrum, das Medizinern erlaubt, operative Eingriffe klassisch an Körperspenden, aber auch mit modernsten 3D-Technologien wie Augmented und Virtual Reality üben zu können.

 

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