Wie hat „Fast Fashion“ unser Verhältnis zu Kleidung verändert? Was sind die ökologischen und sozialen Folgen? Und wie sortieren wir Kleidungsstücke? Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin Heike Derwanz nimmt in ihrer Forschung die Menschen und ihren Umgang mit Kleidung genau unter die Lupe
Hamburg, Schanzenviertel. Vor einem Haus entdeckt Heike Derwanz einen Haufen Kleidungsstücke. Sie greift eine graue Strickjacke heraus, mit großen Löchern unter den Armen, Farbflecken am Saum und offensichtlich eingelaufen. Heute, vier Jahre später, liegt die Jacke auf einem Bürotisch im Institut für Materielle Kultur und ist Teil von Derwanz‘ Forschung: In ihrem Projekt „Kleidung im Überfluss“ untersucht die Juniorprofessorin für Vermittlung Materieller Kultur, wie Fast Fashion – immer billigere Kleidung, die in immer schnelleren Abständen ausgetauscht wird – unsere Beziehung zu Kleidung verändert hat. Derwanz interessiert sich vor allem für den Konsum von Kleidung, für das, was wir mit ihr nach dem Kauf tun – und was mit den Teilen passiert, die wir nicht mehr tragen wollen. Dabei geht es immer wieder auch um die Frage: Welchen Wert messen wir Kleidung bei?
„Würde ich die Menschen fragen, wie viel sie kaufen oder auch wegschmeißen, würden viele ein Maß angeben, das ihnen ‚sozial er-wünscht‘ erscheint – das muss aber nicht unbedingt der Realität entsprechen“, erklärt Derwanz. „Wie wir unsere Kleidung pflegen, ob wir kaputte Stücke reparieren lassen, in welchem Zustand ein Teil für uns noch tragbar ist oder nicht – all das sind Alltagsphänomene, die unter unserem Radar laufen und damit zusammenhängen, was uns Kleidung wert ist.“
Alltagspraktiken erforschen
Um diesen Alltagspraktiken auf den Grund zu gehen, setzt die Wissenschaftlerin in ihrer Forschung vor allem auf ethnografische Methoden, wie die teilnehmende Beobachtung oder qualitative Interviews in Alltagssituationen. So lässt sie sich in sogenannten Kleider-schrankinterviews erklären, nach welcher Systematik und für welchen Zweck Personen ihre Kleidung aussortieren – etwa für Online-Secondhand-Plattformen wie Kleiderkreisel, den Flohmarkt oder die Verschenke-Kiste auf der Straße. Sie geht zu Partys, wo private Menschen ihre mitgebrachte Kleidung untereinander tauschen, und hilft tageweise in Kleiderkammern, die Kleiderspenden annehmen, sortieren und an bedürftige Menschen verteilen.
„Wenn ich mit sortiere, lerne ich ganz viel darüber, welche Kriterien für die Sortierenden von Bedeutung sind – für die Privatperson, die ihren Kleiderschrank entrümpelt oder auch für die Institution, die die Altkleider weiterverwertet“, erzählt Derwanz. So werde bei klassischen Kleiderkammern, zum Beispiel des Deutschen Roten Kreuzes oder der Caritas, alles zum Textil-Recycling weitergegeben, sobald ein kleiner Fleck oder ein winziges Loch zu sehen ist. Sogar ein Chanel-Anzug, den man im Secondhand-Laden für gutes Geld verkaufen könnte.
„Das zeigt, wie unterschiedlich die Ansprüche sind, die wir an Kleidung stellen, und was wir für normal halten“, sagt Derwanz. Zumal das, was für uns normal ist, sich fortlaufend verändere: „Unsere Alltagspraktiken wandeln sich mit den Dingen und Technologien, mit denen wir umgehen. Andersherum beeinflussen wir durch unsere Praktiken, wie sich Technologien weiterentwickeln.“ Bevor es beispielsweise Waschmaschinen gab, seien Hosen und Pullover nur selten gewaschen und stattdessen häufiger einfach ausgelüftet worden. Heute waschen wir T-Shirts oft schon nach einmaligem Tragen – und Waschmaschinen haben immer mehr Kurzprogramme.
Minimalisten als Multiplikatoren nachhaltiger Ideen
In ähnlicher Weise sei Kleidung heute oft weniger haltbar und dafür in größeren Mengen und zu sehr günstigen Preisen vorhanden, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Für viele junge Menschen sei es normal, dass ein im Frühling günstig gekauftes T-Shirt im Herbst schon wieder kaputt geht.
Eng verbunden mit der Entwicklung der Fast Fashion ist für Derwanz der Minimalismus-Trend. Dieser dominiert seit einigen Jahren die Mode, aber auch andere Lebensbereiche wie Wohnraum oder Einrichtung. In ihrem Projekt „Textil-Minimalis-tInnen. Pioniere nachhaltiger Praxis“, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, untersucht sie, was die selbsterklärten Minimalisten antreibt und wie sie vorgehen.
Eine interessante Beobachtung für die Wissenschaftlerin: Die Personen kommen häufig nicht aus der Öko-Bewegung, sondern aus der Mitte der Massenkultur. „Die setzen sich durch diesen Trend zum ersten Mal bewusst mit der Herkunft ihrer Kleidung auseinander: Wo ist überall Plastik drin? Wen unterstütze ich eigentlich, wenn ich ein bestimmtes Produkt konsumiere?“ Derwanz glaubt zwar nicht daran, dass die Minimalisten den Trend der Fast Fashion aufh alten können. Sie sieht diese jedoch als die besten Multiplikatoren für neue, nachhaltige Praktiken und Ideen im Umgang mit Kleidung, „weil sie das aus sich heraus, aus eigenem Antrieb, machen.“
Nachhaltigkeitsbildung im Textilunterricht
Auch diese Frage treibt die Wissenschaftlerin um: Wie kann man Menschen – vor allem Kinder und Jugendliche – für einen nachhaltigeren Umgang mit Kleidung sensibilisieren? „Viele Jugendliche interessieren sich heute für vegane Ernährung oder dafür, wie man im Alltag auf Plastik verzichtet. Ich würde gerne Fast Fashion direkt neben Fast Food setzen, denn die ökologischen und sozialen Folgen sind ebenfalls riesig“, erklärt Derwanz. Vor allem der Textilunterricht in Schulen könne hier wichtige Aufklärungsarbeit leisten, ist sie überzeugt.
So böten einerseits die klassischen textilen Techniken wie Nähen, Stricken oder Häkeln Kindern und Jugendlichen einen Ausgleich in einem stark durch digitale Techniken geprägten Alltag: „Textile Techniken haben sehr viel mit Achtsamkeit und Kreativität zu tun. Das sind Fähigkeiten, die über den Textilunterricht angeregt und transportiert werden können“, sagt Derwanz. Ihre Hoffnung: Junge Menschen, die selbst textile Techniken beherrschen und beispielsweise wissen, wie sich hochwertiges Material anfühlt, entwickeln eine wertschätzendere Haltung gegenüber Kleidung und gehen bewusster mit ihr um.
Auf der anderen Seite könne man über die Auseinandersetzung mit Kleidung viel über globale Zusammenhänge vermitteln – und damit an andere Schulfächer wie Werte und Normen oder Geografie anknüpfen, sagt die Wissenschaftlerin. Zu diesem Zweck plant sie, eine Kiste mit Lernspielen zu Fast Fashion und nachhaltigem Kleidungskonsum zu entwickeln, die Lehrkräfte im Unterricht einsetzen können. Hierfür arbeitet sie eng mit ihrem Institutskollegen, dem Chemiker Norbert Henzel, zusammen, der vor einigen Jahren bereits an der Entwicklung der „Lernkiste Bio-Baumwolle“ beteiligt war.
Auch ihr eigener Umgang mit Kleidung habe sich stark verändert, seitdem sie zu dem Thema forscht, erzählt Derwanz. „Wenn man einmal in dem Müllberg einer großen Kleiderkammer untergegangen ist, dann kommt man als anderer Mensch heraus. Es stört mich nicht mehr, wenn ich Sachen anhabe, die mir nicht perfekt passen und die mich nicht komplett ausdrücken. Man wird flexibler und kreativer.“ Die zerschlissene graue Strickjacke aus dem Schanzenviertel trage sie sogar regelmäßig auf Vorträgen. Auch, um ein Statement zu setzen.