Vernünftiges Miteinanderreden – das ist für Jürgen Habermas eine der Grundvoraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Anlässlich des 90. Geburtstags des Intellektuellen blickt der Oldenburger Habermas-Biograf Stefan Müller-Doohm auf dessen Wirken.
Wenn Jürgen Habermas am 18. Juni 2019 seinen 90. Geburtstag begeht, kann der Starnberger Emeritus auf ein philosophisches und soziologisches Werk zurückschauen, das 60 Buchtitel umfasst, die in fast alle Weltsprachen übersetzt sind und ihm einen länderübergreifenden Widerhall bescheren. Dies umso mehr, als für den Herbst zwei neue Bände zum Themenkomplex Glaube und Wissen angekündigt sind. Dieses Echo, das ein zur gleichen Zeit erscheinender Band mit dem Titel „Habermas Global“ dokumentiert, an dem 40 Autoren aus 20 Ländern beteiligt sind, verdankt sich nicht zuletzt der interdisziplinären Denkweise des Philosophen und Soziologen. Mit ihr verfolgt er das Ziel, zur umfassenden humanwissenschaftlichen Aufgabe einer rationalen Selbst- und Welterklärung beizutragen. Seine scharfsinnigen Zeitdiagnosen gelten den Zukunftsproblemen dieses Globus, der keine Grenzen für ökologische, militärische und wirtschaftliche Risiken kennt.
Respekt gegenüber demokratischen Spielregeln
Was wir speziell unter politischen Aspekten von Habermas lernen können, ist der Entwurf einer in die Zivilgesellschaft eingebetteten, streitbaren Demokratie, die aus dem Geiste der Kommunikation und vom Argumentieren lebt. Aktuelle Gefahren für den Zustand der Demokratie sieht er in der unilateralen America-First-Politik des amerikanischen Präsidenten und den rückwärtsgewandten Ideologien eines neuen Nationalismus und Rechtspopulismus. Mit seinem kritischen Engagement setzt sich Habermas für den Respekt gegenüber demokratischen Spielregeln ein, für die allgemeine Anerkennung von Rechts- und Sozialstaatlichkeit, einschließlich allgemeingültiger Menschenrechte.
In philosophischer Hinsicht zeigt Habermas, dass es die vielfach totgesagte Vernunft gibt. Sie entfaltet sich im kommunikativen Gebrauch der Sprache und steckt in der argumentativen Rede. Die von ihm entwickelte Diskursethik bietet ein Modell dafür, wie frei von Zwängen eine Einigung bei Fragen erzielt werden kann, die strittig geworden sind.
„Weltbürgergesellschaft ohne Weltregierung“
Nicht nur als Theoretiker, sondern gerade auch durch seine Interventionen als tonangebender Intellektueller im Forum der Öffentlichkeit steht Habermas seit Jahrzehnten dafür ein, den Nutzen eines öffentlichen Gebrauchs der Vernunft unter Beweis zu stellen. Er zögert nicht, in die politischen Debatten einzugreifen, wie jüngst durch sein Plädoyer für eine gemeinsame europäische Asylpolitik, sein Plädoyer für ein lernbereites Verhalten gegenüber den Gehalten religiöser Überlieferungen oder sein Plädoyer für den politischen Ausbau der Europäischen Union zu einer von den Bürgern der Länder getragenen transnationalen Demokratie. Sie ist nicht nur ein Gegengewicht zur Dynamik globalisierter Märkte, sondern auch ein Schritt hin zu dem vorerst utopischen Ziel, das er als die zukünftige „Weltbürgergesellschaft ohne Weltregierung“ beschreibt.
Gastbeitrag: Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm