Wie untersucht man Literaturzeitschriften aus drei Jahrhunderten? Haimo Stiemer setzt auf digitale Analysemethoden – und erhielt mit diesem Ansatz ein „Carl von Ossietzky Young Researchers' Fellowship“ der Universität.
Die Lektüre von Literaturzeitschriften aus Vergangenheit und Gegenwart erlaubt einen Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs: Schriftsteller probieren sich aus, Kritiker machen Neuerscheinungen nieder oder loben sie in den Himmel, Autoren von Goethe bis Brecht entwickeln wirkmächtige literarische Konzepte. Damit dienen die Journale Schriftstellern gleichermaßen als literarisches Sprachrohr und als Versuchslabor.
Auch für Literaturwissenschaftler sind die Zeitschriften interessant: Den Forschern liefern sie wertvolle Hinweise darauf, in welchem Verhältnis Schriftsteller und Journalisten zueinander standen. Umso erstaunlicher ist es, dass Literaturzeitschriften, abgesehen von einigen besonders bekannten Titeln, bisher noch nicht systematisch untersucht worden sind. Diese Forschungslücke möchte Dr. Haimo Stiemer schließen: Mit einem „Carl von Ossietzky Young Researchers' Fellowship“ will er eine umfassende Geschichte der deutschsprachigen Literaturjournale verfassen – von ihren Anfängen am Ende des 17. Jahrhunderts bis ins späte 20. Jahrhundert. Dabei interessiert er sich auch dafür, inwiefern wirtschaftliche Faktoren den Literaturbetrieb prägten.
„Dass es zu diesem Thema noch keine umfassende Forschung gibt, liegt vor allem an der großen Menge an Material“, erläutert Stiemer. Literaturwissenschaftler haben zwar schon viele Titel in Bibliographien systematisch erfasst und Zeitschriften digitalisiert, doch es fehlten bisher Möglichkeiten, Quellenmaterial aus mehreren Jahrhunderten detaillierter auszuwerten. Abhilfe schaffen hier Methoden der „Digital Humanities“, einer Forschungsrichtung, die Ansätze der Informatik für die Geisteswissenschaften nutzbar macht. Besonders nützlich ist das bei Projekten, in denen extrem große Textmengen analysiert werden müssen – genau wie es Stiemer in seinem Vorhaben plant. Er nutzt digitale Methoden nicht nur zur Recherche, sondern auch zur inhaltlichen Analyse von Texten.
Wenn der Computer Texte analysiert
Konkret verwendet Stiemer Programme wie Catma, Gephi oder NetworkX: Die Software ermöglicht es, Suchwörter wie Namen von Autorinnen, Verlegern oder Journalistinnen in nahezu unbegrenzt vielen Texten automatisch zu erfassen. Außerdem wertet sie aus, wie häufig und in welchen Publikationen diese Akteure miteinander in Beziehung standen und erstellt hierzu Diagramme. Auch, ob die Literaten, Journalisten oder Verleger einander eher freundlich oder kritisch gegenüberstanden, kann das Programm untersuchen. Dazu definiert Stiemer Wortfelder, die auf positive oder negative Einstellungen und Gefühle hindeuten und lässt anschließend das Programm die Texte auf diese Wörter hin durchsuchen. „Die Kombination beider Methoden könnte so manche Äußerungen in den Zeitschriften in ein neues Lichtrücken“, verrät Stiemer. Etwa, wenn engagierte Verleger begeisterte Rezensionen über die Werke ihrer Autoren verfassen.
Mit seiner Arbeit möchte Stiemer gängige Formen der Literaturgeschichtsschreibung hinterfragen, die Erfolg und Misserfolg von Autoren hauptsächlich auf die literarische Qualität ihrer Texte zurückführen. „Wenn Schriftsteller erfolgreich werden, hat das niemals nur mit ihrem literarischen Talent zu tun“, erläutert er. Vielmehr finden oft begabte Autoren und geschickte Verleger zusammen, verbindet sich schriftstellerisches Talent mit gezielten Werbestrategien. Solche Verknüpfungen analysierte Stiemer bereits in seiner Dissertation über das deutschsprachige Feuilleton im Prag des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dort verfolgte er schon das gleiche Anliegen wie in seinem aktuellen Projekt: Literaturgeschichte neu zu erzählen, mit einem Fokus auf verzweigten Netzwerken von Autoren, Verlegern und Journalisten statt auf wenigen „Genies“.
Mechanismen des Literaturmarkts
Mit diesem Ansatz beruft sich Stiemer, der neben Germanistik auch Sozialwissenschaften studiert hat, auf die sogenannte Feldtheorie von Pierre Bourdieu (1930-2002). Der französische Soziologe beschäftigte sich mit den sozialen Regeln und Mechanismen, die auf dem Literaturmarkt vorherrschend sind und konstatierte, dass wirtschaftliche Interessen prägend, aber nicht beherrschend sind. Historisch gesehen, so Bourdieu, würden die ökonomischen Einflüsse abnehmen, die Autoren immer mehr um der Kunst und nicht des wirtschaftlichen Erfolges willen schreiben.
Inwiefern das zutrifft, möchte Stiemer in Zukunft nicht nur für den deutschsprachigen Literaturbetrieb untersuchen. Das „Carl von Ossietzky Young Researchers' Fellowship“ ermöglicht es ihm, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine eigene Nachwuchsgruppe einzuwerben, zu der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Anglistik, Niederlandistik oder Slavistik gehören sollen. Stiemers Plan ist es, seinen Forschungsansatz auch auf Literaturzeitschriften anderer Länder anzuwenden. Dabei soll es unter anderem um die Frage gehen, inwiefern sich literarische Entwicklungen in verschiedenen Ländern gegenseitig beeinflussten. Denn eines kann Stiemer schon jetzt sagen: Weder lassen sich Literatur und Wirtschaft strikt voneinander trennen, noch entwickelten sich die literarischen Moden einzelner Länder unabhängig voneinander.