• Zum Start in Oldenburg Mitte März ging es für Physiker Michael Sinhuber vorerst ins Homeoffice. Sobald die Infektionslage es erlaubt, möchte er im turbulenten Windkanal von ForWind Experimente mit Modell-Windenergieanlagen starten und sich mit seiner Forschung im Rahmen des „Carl von Ossietzky Young Researchers‘ Fellowship“ weiter profilieren. Foto: Daniel Schmidt

Weil das Ganze mehr ist als seine Teile

Ein Windpark – kollektives System wie ein Insektenschwarm? Physiker und Ossietzky-Fellow Michael Sinhuber möchte Schwarm- und Turbulenzforschung verbinden, um die Steuerung von Windparks zu optimieren.

Ein Windpark – kollektives System wie ein Insektenschwarm? Physiker und Ossietzky-Fellow Michael Sinhuber möchte Schwarm- und Turbulenzforschung verbinden, um die Steuerung von Windparks zu optimieren.

Auf den Geruch von Stanford kann er gut verzichten. Nicht, dass das wissenschaftliche Arbeiten an der US-Eliteuni ihm keine Freude gemacht oder ihn nicht weitergebracht hätte. Aber der Geruch an seinem Arbeitsplatz war schon etwas für Hartgesottene: Um als Postdoktorand das Verhalten von Fliegen im Schwarm und dessen Reaktionen auf Turbulenzen erforschen zu können, hatte Dr. Michael Sinhuber sich nicht zuletzt um die regelmäßige Versorgung der Larven mit einem Brei aus zerkochtem Zellstoff und Kaninchenfutter zu kümmern. „Die Plexiglaskästen stanken ungemein“, erinnert sich der Physiker, „aber die Schwärme als kollektive Systeme haben uns sehr viele spannende und auch überraschende Erkenntnisse beschert.“ An seine Experimente will Sinhuber nun im Oldenburger Windkanal anknüpfen – wenn auch ohne Beteiligung von Insekten. Im Rahmen eines dreijährigen „Carl von Ossietzky Young Researchers‘ Fellowship“ der Universität möchte er einen Modell-Windpark als kollektives System analysieren.

Den heute 35-Jährigen interessierte schon immer „das große Ganze“ – so kam er zum Studium der Physik in Münster. Dort setzte der gebürtige Oldenburger seinen Schwerpunkt zunächst in der numerischen Simulation strukturbildender Systeme: „Mit dem Computer habe ich simuliert, was passiert, wenn man einen Wasserbehälter von unten erhitzt und zugleich von oben kühlt – die so genannte Rayleigh-Bénard-Konvektion, wie sie beispielsweise in einem Kochtopf, aber auch im Erdmantel stattfindet“, erläutert Sinhuber. Dabei ergaben sich erste Anknüpfungspunkte zur Turbulenzforschung: „Wenn man die Temperaturunterschiede groß genug macht, wird dieses System turbulent“, berichtet der Physiker. Als sich dann die Gelegenheit bot, in Göttingen zu turbulenten Strömungen in der Erdatmosphäre zu promovieren, griff er zu und wechselte ans Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „So bin ich von der Theorie ins Experiment gerutscht.“

Fünf Jahre später bot sich ihm – Doktortitel in der Tasche – die nächste Gelegenheit: Forschung am Department für Bau- und Umweltingenieurwesen der Stanford University im US-Bundesstaat Kalifornien. Er nutzte die Chance und tauschte die Luftströme im Göttinger Windkanal als Forschungsgegenstand gegen turbulente Strömungen in Polymerlösungen ein, also in Flüssigkeiten, in denen bestimmte, aus großen Molekülen bestehende chemische Substanzen gelöst sind. Mit durchaus praktischer Anwendung, wie Sinhuber anhand des Beispiels Feuerlöschwasser erläutert: „Wenn man Wasser sehr geringe Anteile einer Polymerlösung beifügt, kommt der Wasserstrahl aus dem Löschschlauch viel weiter als reines Wasser. Obwohl die Materialeigenschaften des Wassers nahezu unverändert bleiben, ändern sich die Strömung und deren Turbulenzen ganz drastisch.“

Das kollektive Verhalten von Insektenschwärmen – vor allem bei äußeren Störungen wie unerwarteten optischen Reizen oder Wind – beschäftigte Sinhuber zunächst eher als zweites Standbein, ehe es in Stanford sein Hauptthema wurde. Sein Forschungsgruppenleiter hatte zuvor an der US-Eliteuni Yale an Insektenschwärmen geforscht und die Bestandteile für entsprechende Experimente mitgebracht. „Weil wir schlicht noch Platz im Labor hatten, haben wir es neu aufgebaut“, erinnert sich Sinhuber. Er schraubte die besagten Plexiglaskästen mit zusammen, in denen künftig die Fliegenschwärme lebten und die er später mehrmals wöchentlich reinigen musste. „Für mich war es schon überraschend, dass lebende Wesen im Kollektiv strengen physikalischen Regeln folgen“, sagt er. „Wir kombinierten Methoden und Konzepte aus der Schwarm- und Turbulenzforschung und fanden heraus: Je mehr der Schwarm als kollektives System gestört wird, desto stärker sind zum Beispiel Flugbahnen und Geschwindigkeiten der einzelnen Fliegen korreliert.“

Dabei machten sich Sinhuber und ein Postdoc-Kollege zunutze, dass die von ihnen gepflegte Fliegenart ihr Leben größtenteils als Larve verbringt und in ihrer zweitägigen Lebensdauer als ausgewachsene Fliege ihre Anstrengungen darauf konzentriert, sich fortzupflanzen. Zwei Mal täglich – in der Morgen- und der Abenddämmerung – stellten die Fliegen zuverlässig Paarungsschwärme her. Und je nach Störung reagierte der Schwarm als Kollektiv ganz unterschiedlich. So stellte Sinhuber fest, dass sein Verhalten demjenigen eines zäh wabernden Gels ähnelte, wenn sich vor dem Plexiglastank ein Objekt hin und her bewegte. „Der Schwarm bewegte sich nicht als Block mit dem optischen Signal hin und her, sondern durch ihn ging eine Informationswelle“, erläutert Sinhuber. „Die Fliegen reagieren nicht als unabhängige Individuen auf den Störfaktor – der Schwarm als Ganzes hat einen gewissen Informationsfluss.“ Mithilfe mathematischer Methoden entdeckte er zudem Parallelen zwischen dem Verhalten eines Fliegenschwarms und thermodynamischen Systemen wie Gasen. „Wenn man so tief geht, kann man wirklich kollektives Verhalten identifizieren.“

Seine Faszination für diese Effekte brachte Sinhuber zu der Frage: „Lässt sich das eigentlich auch auf menschengemachte Systeme übertragen?“ Windparks erschienen ihm naheliegend, um dies zu untersuchen. Windenergieanlagen ließen sich zwar individuell steuern, aber jede Anlage beeinflusse auch die Strömungsverhältnisse für alle anderen – ein kollektives System wie ein Insektenschwarm? „Das war für mich der Ausgangspunkt, zurück nach Deutschland und speziell nach Oldenburg zu kommen.“ Bereits bestehende Kontakte zur Arbeitsgruppe „Turbulenz, Windenergie und Stochastik“ von Prof. Dr. Joachim Peinke erleichterten Sinhuber im März den Start – denn aufgrund der Corona-Pandemie ging es für ihn unverhofft vorerst ins Homeoffice, wo ihn seither theoretische Arbeiten, Forschungsanträge und das Bachelor-Projekt seines ersten studentischen Mitarbeiters beschäftigen.

Sobald die Infektionslage es erlaubt, wird er seine geplanten Experimente im Windkanal von ForWind starten. Anhand von Modell-Windenergieanlagen möchte er besser verstehen lernen, wie sich ein Windpark bei Turbulenzen verhält. „Letztlich könnte dies die Steuerung von Windparks weiter verbessern helfen – und sich auch auf andere kollektive Systeme wie etwa Drohnenschwärme zur Seenotrettung oder Geländeerkundung übertragen lassen“, hofft Sinhuber.

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