Vita

Prof. Dr. Gerd Hentschel ist seit 1993 Hochschullehrer für Slawische Sprachwissenschaft an der Universität. Er studierte Slawistische und Anglistische Sprachwis­senschaft sowie Slawistische Literaturwissenschaft in Göttingen und Krakau. Anschließend forschte und lehrte Hentschel an der Universität Göttingen, wo er auch promovierte und habilitierte. Längere Forschungsaufenthalte verbrachte er in Russland, Weißrussland und den USA. Zu seinen derzeitigen Forschungsschwerpunkten gehören historische Lehnbeziehungen zwischen dem Deutschen und dem Slawischen, kontaktbedingte Mischvarietäten im Slawischen sowie der morphologische Wandel von slawischen Sprachen.
Die im Interview erwähnte Monographie „Das Schlesische und seine Sprecher: Etablierung in der Gesellschaft, Attitüden, Vitalität der Germanismen“ erscheint im Verlag Peter Lang. Das Vorhaben förderte die Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.

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Prof. Dr. Gerd Hentschel

Institut für Slavistik

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    Seit 1993 lehrt Gerd Hentschel slawistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg. Foto: Daniel Schmidt/ Universität Oldenburg

Sprachen bieten eine kleine Heimat

Sprachen sind oft variabler, als wir uns das vorstellen. Im Interview spricht Slawist Gerd Hentschel über deutsche Lehnwörter im Oberschlesischen und das Streben der Oberschlesier, Wertschätzung für ihr Idiom zu erfahren.

Sprachen sind oft variabler, als wir uns das vorstellen. Im Interview spricht Slawist Gerd Hentschel über deutsche Lehnwörter im Oberschlesischen, Sprache als Identifikation und das Streben der Oberschlesier, Wertschätzung für ihr Idiom zu erfahren.

Professor Hentschel, Sie forschen über Sprachvariationen und Sprachkontakte – also darüber, was passiert, wenn zwei oder mehr Sprachen aufeinandertreffen. Was fasziniert Sie daran?

Sprachen gelten als mehr oder weniger geschlossene Systeme mit festen Regeln. Aber sie verändern sich laufend, indem sie gesprochen werden. Selbst in unserer deutschen Standardsprache gibt es viel mehr Variationen, als wir uns das vorstellen. Eine Sprache steht zudem in sozialen und politischen Zusammenhängen, auch zu anderen Sprachen. Die deutsche Sprache etwa hat nach dem Krieg viele Anglizismen übernommen. Das ist ein Spiegel der Realität. Mich interessieren weniger die vermeintlich starren Regeln, sondern die Frage, wie sich Sprachen als System entwickeln und dabei selbst regulieren.

Sie beschäftigen sich unter anderem mit deutschen Lehnwörtern. Das sind Begriffe in einer Sprache, die sich in Ausdruck und Bedeutung auf das Deutsche zurückführen lassen. In einem Projekt ging es konkret um solche Germanismen im Schlesischen. Wie kam es dazu?

Lehnwörter spiegeln Kontakte zwischen Sprachen wider. Bereits bei meiner ersten wissenschaftlichen Stelle ging es um deutsche Lehnwörter im Polnischen. Meine langjährigen Forschungen sind losgelöst von aktuellen Vorhaben in das LehnwortPortal Deutsch am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim integriert worden. Vor einiger Zeit kontaktierte mich Jolanta Tambor von der Schlesischen Universität in Kattowitz. Sie vertrat die starke These, Germanismen seien zwischen 1945 bis heute aus dem Schlesischen verschwunden. Das habe ich in dieser Absolutheit nicht geglaubt und vorgeschlagen, dass wir das untersuchen.

Hintergrund der Monographie, die Sie mit Jolanta Tambor und Ihrem Kollegen István Fekete verfasst haben, ist auch das Bestreben, Schlesisch als Regionalsprache im Sinne der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen anerkennen zu lassen. Was ist das Besondere an dieser Sprache?

Uns geht es genau gesagt um das Idiom, das die Menschen in Oberschlesien sprechen, also im südöstlichen Teil der historischen Region Schlesien. Wir haben das Industrierevier von Gleiwitz bis Kattowitz bis zur tschechischen Grenze im Süden sowie, weiter westlich, den Raum Oppeln erfasst. Das Schlesische ist eine Art Mischsprache, die Wörter, aber auch grammatische Elemente aus zwei Sprachen kombiniert, also deutsche und polnische im weiteren Sinne. Solche gemischten Varietäten finden wir auch in Weißrussland und der Ukraine, hier mit starken russischen Einflüssen. Schon Ende des 18. Jahrhunderts meinte der Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung, wer Schlesisch spreche, nehme deutsche Wörter und verbinde sie mit polnischen Endungen. Daran ist etwas Wahres. Die historische Basis war eine polnische Mundart, die Flößer an der Oder – am Wasser – sprachen, daher auch „Wasserpolnisch“. Die Menschen hatten viel Kontakt zum Deutschen, daher hat das Schlesische vor allem große Mengen an deutschen Wörtern übernommen. „Wasserpolnisch“ wurde später als „vom Deutschen verwässertes Polnisch“ uminterpretiert.

Das heißt, die Oberschlesier waren lange zwei- und sogar dreisprachig...

Die Menschen mussten aus sozialer Notwendigkeit zumindest bis zu einem gewissen Grad Deutsch sprechen: Schlesien war jahrhundertelang unter deutschsprachiger Herrschaft. Die katholische Kirche sorgte dafür, dass auch das Standardpolnische seinen Platz hatte. Zuhause und mit „Ihresgleichen“ sprachen die Leute Schlesisch. Im Nachgang zum Ersten Weltkrieg wurde Oberschlesien geteilt: Der Osten, beispielsweise Kattowitz, ging an das jetzt wieder unabhängige Polen. Der Westen, zum Beispiel das etwa 15 Kilometer entfernte Beuthen, an das Deutsche Reich. Der Konflikt unter den deutsch beziehungsweise polnisch orientierten Oberschlesiern war blutig, teils zwischen Familienmitgliedern und Nachbarn. Im Osten spielte Deutsch keine große Rolle mehr. Das Polnische trat an seine Stelle. Im Westen setzte sich die alte Konstellation fort. Nach 1945 änderte sich die Situation vollständig. Etwa zwei Drittel der heutigen Bevölkerung Oberschlesiens hatten ihre Wurzeln vor 1945 in anderen Teilen Polens. Polnisch wurde jetzt überall die sogenannte Dachsprache, also die Sprache der Obrigkeit und vor allem der Bildungseinrichtungen. In den ersten Jahren gab es zudem eine massive antideutsche Kultur und Schulpolitik, Deutsch war verboten. Es ist heute nur marginal präsent. Auch das stark von Deutschen beeinflusste Schlesische war verpönt. Heute ist die Lage viel entspannter, wenn auch nicht spannungsfrei.

Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen?

Wir haben 2.000 Menschen in kleinen Gruppen befragt. Die Fragen zielten zunächst auf die Identität der Menschen, auf ihre Wünsche zum Schlesischen sowie auf ihren soziobiographischen Hintergrund. Wir wollten wissen: Welche Faktoren fördern oder hemmen die Verwendung des Schlesischen sowie der Germanismen? Und vor allem: Welche Germanismen sind 70 Jahre nach Ende des Kriegs noch vital? Denn heute dosieren alteingesessene Schlesier beziehungsweise ihre Nachkommen ihr Sprachverhalten, die Wahl ihrer Ausdrucksmittel, graduell in die schlesische oder polnische Richtung – je nach Kommunikationssituation. Die moderne Soziolinguistik nennt das Styleshifting. Darüber hinaus haben wir 700 schlesische Wörter deutscher Herkunft ausgewählt. Wir haben gefragt, wie häufig die Menschen einerseits das schlesische und andererseits das bedeutungsgleiche Wort aus dem Standardpolnischen verwenden – und zwar wenn sie Schlesisch sprechen. Die Befragten gewichteten auf einer Skala von eins (nur das schlesische) bis sieben (nur das polnische) ihre Präferenzen. In der Sprachwissenschaft spricht man von „subjektiver Verwendungsfrequenz“.  

Was haben Sie herausgefunden?

Zunächst zur Identität: Unsere Studie deutet darauf hin, dass sich die Befragten weitestgehend sowohl als Schlesier als auch als Polen fühlen. Ihre ethnisch-kulturelle Andersartigkeit sehen sie also als im breiteren Spektrum einer polnischen Identität inkludiert. Nur sehr wenige fühlen sich auch noch heute nicht als Polen. Das Misstrauen nationalistischer Politiker in Polen gegenüber den alteingesessenen Schlesiern ist also unbegründet. Zu den Wörtern deutscher Herkunft: Knapp die Hälfte der 700 untersuchten Wörter sind geschwunden oder werden nur noch sporadisch verwendet. Etwa zehn Prozent verwenden fast alle Befragten noch ständig. Ein gutes Drittel ist gut in Gebrauch, aber nicht unangefochten. Große regionale Unterschiede gab es nicht – das zeugt von einem relativ kohärenten Kommunikationsraum. Nur einzelne Germanismen sind für gewisse Teilregionen typisch. Tatsächlich ist das oberschlesische Revier zu großen Teilen ein Konglomerat von Städten, ähnlich wie das Ruhrgebiet. Wenn Sie nicht auf die Ortsschilder achten, dann merken Sie nicht, dass Sie aus einer Stadt in die nächste fahren. Bestimmte Germanismen werden nur noch von älteren Leuten mit größerer Häufigkeit verwendet. Jüngere kennen diese oft nicht einmal. Wir haben auch gefragt, inwieweit die Befragten das Deutsche überhaupt noch praktizieren. Zwar gaben zwei Drittel an, Deutschkenntnisse zu haben, aber nur ein kleiner Prozentsatz davon hat gute Kenntnisse. Extrem wenige sagten, dass sie Deutsch regelmäßig verwenden. Ein direkter, intensiver Kontakt zwischen Schlesisch und Deutsch ist also heute marginal.

Hat Sie etwas besonders überrascht?

Wir fanden eine überaus deutliche sogenannte bimodale Verteilung. Das bedeutet: Wenn Individuen einen Germanismus noch kennen, dann verwenden sie ihn in der Regel auch sehr häufig im Schlesischen. Es gab wenig Nuancen. Dieses Ergebnis hatten wir in dieser Eindeutigkeit nicht erwartet, denn so gut wie alle Respondenten sprechen im Alltag auch Polnisch, mal mehr, mal weniger. Ein großer Teil der Befragten spricht Schlesisch und Polnisch annähernd gleich häufig.

Welche Germanismen kommen besonders häufig vor?

Das häufigste Wort hat nur zwei Buchstaben: ja. Auf Polnisch heißt es tak. Das Wort mit der Bedeutung „ja“ wird gerne von außen übernommen: Auch die stark vom Russischen beeinflusste Variante des Weißrussischen zeigt das russische Wort, für „nein“ jedoch das weißrussische. Da Oberschlesien eine Bergbauregion ist, sind Wörter aus dem Bergbau häufig – ganz abgesehen von rein fachsprachlichen Elementen. So heißt es gruba für „Grube, Schacht“, polnisch dagegen kopalnia. Für „Brille“ sagt man schlesisch brele oder bryle, polnisch okulary, für „Luft“ luft, polnisch powietrze; nur um wenige Beispiele für sehr geläufige Wörter zu geben.

Welche Faktoren bestimmen, ob ein Germanismus noch gebräuchlich ist?

Das wichtigste Kriterium ist: Sprechen die Leute häufig Schlesisch, dann verwenden sie auch mehr deutsche Lehnwörter. Menschen mit Hochschulbildung tun das in geringerem Maße – aber nicht aus einer Ideologie heraus, sondern aus sozialen Umständen. Ein Germanismus hält sich zudem besser, wenn er auch in anderen regionalen Varietäten des Polnischen, aber nicht in der Standardsprache verwendet wird. Das hängt mit der großen Zahl zugezogener Polen zusammen. Ein dritter wichtiger Faktor ist, dass eine schlesische Identität ausgeprägt ist. Sprachen sind ja nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Identifikationsmittel – sie bieten eine kleine Heimat. Der Verlust der sprachlichen Vielfalt in Europa ist ja nicht erst durch die Globalisierung eingeleitet worden, sondern durch die viel frühere Nationalisierung. Durch die Globalisierung, also die Internationalisierung von politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen, geben sogenannte Nationalsprachen teilweise Funktionsbereiche an international verbreitete Verkehrssprachen ab. Demokratisierung und Liberalisierung dagegen sind förderlich für die kleinen Sprachen.

Was wollen die Schlesier selbst?

Eigentlich nur, dass sich ihre Varietät emanzipiert. Knapp die Hälfte würde Schlesisch als zweite Amtssprache begrüßen. Vor allem möchten alteingesessene Schlesier für ihre Regionalität, auch in ihrer historisch-kulturellen Spezifik, eine Wertschätzung erfahren. Und sie wünschen sich mehr Präsenz des Schlesischen, vor allem in Radio und Fernsehen.

Was folgt aus Ihrer Forschung – etwa für die Idee, das Schlesische als Regionalsprache anzuerkennen?

Wenn man das Schlesische zu diesem Zweck normieren will, beispielsweise für die Verwendung in Lehr-, Lese- und Wörterbüchern in der Schule, so könnte man primär das übernehmen, was alle sprechen – etwa die Wörter ja, gruba, luft. Dann hat man eine sichere Grundlage. Verzichtet man auf diese, läuft man Gefahr, dass ein so normiertes beziehungsweise kodifiziertes Schlesisch nicht akzeptiert würde: Eine Mehrheit ist für den Erhalt von Germanismen. Auf die weithin vergessenen Germanismen kann verzichtet werden. Aber das ist letztlich eine politische Frage.

Was erhoffen Sie sich?

Ich habe eine Sympathie für kleine Heimaten. Dafür hat mich schon mein polnischer Doktorvater in Göttingen, Professor Andrzej de Vincenz, begeistert. Wenn sich aus einem gewachsenen Zusammengehörigkeitsgefühl heraus eine nennenswerte Gruppe herausbildet, die ihr Idiom, ihre Sprache wertgeschätzt und politisch unterstützt sehen möchte, dann sollte das in einem demokratischen und liberalen Europa gewährt werden.

Interview: Constanze Böttcher

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