Über den Autor

Prof. Dr. Gerd Hentschel ist seit 1993 Professor für slavistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg und langjähriger Kenner der sprachlichen und kulturellen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine. Hentschel studierte slavische und englische Philologie in Göttingen und im polnischen Krakau. Längere Forschungsaufenthalte verbrachte er in Russland, Weißrussland und den USA. Promotion und Habilitation schloss er in Göttingen ab. Hentschels Forschungsschwerpunkte sind Sprachkontakte in Geschichte und Gegenwart sowie Lexikographie und Morphosyntax. In den vergangenen Jahren befasste er sich insbesondere mit der sprachlichen Situation in Weißrussland und der Ukraine.

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Prof. Dr. Gerd Hentschel

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  • Ein nur in Teilen lesbarer Auszug aus einem englischsprachigen Lexikon, das die Sprache Ukrainisch definiert.

    Das Lexikon beschreibt Ukrainisch als eine der slavischen Sprachen und bietet grundlegende Informationen. Einen deutlich tieferen Einblick nicht nur in die Sprache, sondern auch in das Selbstverständnis der Ukrainerinnen und Ukrainer hat Sprachwissenschaftler Gerd Hentschel in vielen Jahren intensiver Forschung gewonnen. Foto: Feng Yu / Adobe Stock

  • Gerd Hentschel ist Professor für slavistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg. Foto: Daniel Schmidt / UOL

Ukraine und Russland: Wir sind doch ein Volk?

Einen Einblick in die ukrainische Identität gibt der Oldenburger Slavist Gerd Hentschel. Die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung – gerade auch im Verhältnis zu Russland – hat er seit Annexion der Krym 2014 in mehreren Uni-Projekten erforscht.

Einen Einblick in die ukrainische Identität gibt der Oldenburger Slavist Gerd Hentschel in seinem Gastbeitrag. Die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung – gerade auch im Verhältnis zu Russland – hat er seit Annexion der Krym 2014 in mehreren Uni-Projekten erforscht.

Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland hören seit dem 24. Februar von vielen Russinnen und Russen in ihrer Umgebung Worte des Mitgefühls, ja der Entschuldigung für das, was die Machthaber im Moskauer Kreml mit der Ukraine und ihren Menschen machen. Diejenigen, die dies äußern, begründen ihr Mitgefühl etwa mit der Aussage „Wir sind doch ein Volk“. Bei einer meiner Mitarbeiterinnen im Institut für Slavistik, die dies mehrfach hörte, löste der Satz vor allem in den ersten Tagen Empörung und schroffe Ablehnung aus, gehört doch dieses Argument der „völkischen Zusammengehörigkeit“ zum Repertoire Wladimir Putins. Die vermeintliche, diffuse „ethnisch-nationale“ Zusammengehörigkeit dient ihm als Argument für eine wie auch immer zu gestaltende, aber sicherlich zentral von Moskau gelenkte staatliche Zugehörigkeit der Ukraine und Weißrusslands zu Russland.

Eine derartige Einstellung ist in Russland weit verbreitet, wie auch die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja in der FAZ vom 3. März dieses Jahres feststellt. Sogar der 2008 verstorbene russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn, im Westen geschätzter Dissident, sprach sich angesichts des Zerfalls der Sowjetunion vehement für die staatliche Einheit von Russen, Weißrussen und Ukrainern aus. Aber er sagte auch deutlich: „Wenn sich allerdings das ukrainische Volk tatsächlich [von Russland] abtrennen will – dann wird niemand wagen, es mit Gewalt davon abzuhalten.“ Trotz seiner Argumente für eine staatliche Zusammengehörigkeit, von denen verschiedene auch in Putins Geschichtsklitterung der jüngsten Wochen einfließen, konzediert Solschenizyn den Ukrainern sowohl den Status eines Volkes (narod) als auch ein Recht auf staatliche Unabhängigkeit. Ein diktatorisch regiertes Russland will heute beides mit Gewalt zerstören.

Einblicke in ukrainische Selbstwahrnehmung

Wie denken nun die Ukrainerinnen und Ukrainer? Drei wissenschaftliche Projekte der Universität Oldenburg geben hierzu Auskunft. Die Daten stammen einerseits aus einer Umfrage, die im Jahr 2014, also bald nach der Annexion der Krym, in der Zentralukraine stattfand. Eine zweite Umfrage erfolgte 2020 und 2021 in den drei Oblasten (Verwaltungsgebieten) an der Schwarzmeerküste. Insgesamt umfassen die Untersuchungen 2.600 zufällig ausgewählte Befragte.

Unsere Arbeiten zur zentralen Ukraine und zum Süden zeigen Folgendes: Als besondere ukrainische Nation sehen sich acht bis neun von zehn Befragten, nennenswerte regionale Unterschiede gibt es nicht. Jedoch bezeichnen einer bis drei von zehn Befragten die Eigenständigkeit als nicht „uneingeschränkt“. Diese Sichtweise vertraten Befragte beispielsweise in Gebieten nahe der russischen Grenze oder in Cherson, nördlich der Krym, etwas häufiger. Die Antworten auf die etwas anders formulierte Frage, ob man gleichzeitig Ukrainer und Russe sein kann, sind weniger eindeutig. Mitunter die Hälfte, mindestens aber ein Fünftel der Befragten lässt erkennen, dass man eine doppelte Zugehörigkeit für möglich hält. Hier deuten sich sowohl die traditionell stärkere Orientierung des Südens, aber auch des Ostens der zentralen Ukraine auf das Russische als auch die engeren Kontakte mit dem nahen Russland an, als das in westlicheren Gebieten des Landes der Fall ist.

Unterschiede bei Stadt- und Landbevölkerung

Ein Blick auf die Kultur: In manchen Oblasten sehen nur die Hälfte der Befragten einen Unterschied zwischen der ukrainischen und der russischen Kultur – etwa an der Schwarzmeerküste oder in den eher ländlich geprägten Oblasten im Norden und im Zentrum der Ukraine. In anderen, städtisch geprägten Gebieten, etwa um Charkiw und Dnipro, sehen jedoch fast drei Viertel der Befragten einen Unterschied.

Fühlen sich die Befragten nun als Ukrainer/Ukrainerin oder als Russe/Russin oder als beides – auch in Abstufungen? Die Antworten sind komplex, aber manches lässt sich hervorheben: Der größte Teil – zwischen der Hälfte und über vier Fünftel – der Befragten fühlt sich uneingeschränkt als Ukrainer und in der Regel ebenso uneingeschränkt nicht als Russen, seltener „eher nicht“ als Russen. 2014 sprachen viele Befragte, trotz Annexion der Krym, noch von „drei Brudervölkern“. Das war 2020/2021 kaum noch zu hören. Manche ältere, sowjetisch sozialisierte Ukrainerinnen und Ukrainer äußern, Putin habe sie erst zu Ukrainern gemacht.

Wunsch nach staatlicher Eigenständigkeit

Zur Frage nach der staatlichen Eigenständigkeit der Ukraine: Eine staatliche Vereinigung mit Weißrussland und Russland, das damalige Wunschbild Solschenizyns und heute Putins, lehnen in allen Oblasten deutliche Mehrheiten ab. Nur zwischen fünf und 25 Prozent könnten einer solchen Union zustimmen, aber eher mit Vorbehalten als vorbehaltslos. Das gilt auch für traditionell stärker russisch orientierte Oblasten wie Charkiw und die drei am Schwarzen Meer. Die deutschen TV-Medien hatten in mehreren Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern in Charkiw vor dem Überfall ja eher eine Bereitschaft zur Vereinigung mit Russland suggeriert.

Heute, nach mehreren Wochen Krieg mit seinen Tausenden Toten, wäre die Ablehnung eines solchen Unionsstaates zweifellos noch viel größer. Die ethnisch-nationale Abgrenzung der Ukrainerinnen und Ukrainer von Russland ist heute sicher noch klarer.

Beginn einer Feindschaft?

Wenn große Teile der russischen Bevölkerung dennoch bei der Überzeugung „Wir sind ein Volk“ blieben und einen gemeinsamen „allrussischen“ Staat bevorzugten, so wäre das zunächst nicht mehr als einer von vielen ethnisch-nationalen Antagonismen in Europa, mit denen man sich politisch-demokratisch und wissenschaftlich auseinandersetzen kann und muss. Aber nur solange, wie, im Sinne Solschenizyns, das Recht auf Selbstbestimmung anerkannt und von Gewalt Abstand genommen würde. Das Putin-Regime verleumdet hingegen das Recht auf Selbstbestimmung und gebraucht blutige Gewalt. Die derzeitige Tragödie in der Ukraine basiert aber nicht auf einer Feindschaft zwischen der Bevölkerung der Ukraine und Russlands, trotz mancher gegensätzlicher Standpunkte. Leider könnte sich eine solche Feindschaft jetzt jedoch entwickeln.

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