Vita

Dr. Hans-Christian Petersen studierte Osteuropäische Geschichte, Slavistik und Politologie an den Universitäten Kiel und Kaliningrad und promovierte 2006 in Kiel mit einer biographischen Studie über den „Ostforscher“ Peter-Heinz Seraphim. Sein Habilitationsprojekt über die sozialen Räume der städtischen Unterschichten in der russischen Metropole St. Petersburg schloss er 2016 an der Universität Mainz ab.

Petersen war von 2003 an Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz, ehe er 2014 nach Oldenburg ans Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) wechselte. Er ist zugleich Angehöriger des Instituts für Geschichte der Universität und leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Malte Rolf die Zweigstelle Oldenburg der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO). Seit April 2021 hat er eine einjährige Gastprofessur für „Migration und Integration der Russlanddeutschen“ am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück inne. 

Zum Thema

Die Russlanddeutschen sind seit Jahren Schwerpunkt seiner Forschung. Sie gehören zu den rund 3,5 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit deren Zusammenbruch in die Bundesrepublik gekommen sind – die größte migrantische Gruppe in Deutschland, über die die Mehrheit der Bevölkerung aber wenig wisse, sagt Petersen. Neben politischen Flüchtlingen aus Russland oder Tschetschenien oder jüdischen Kontingentflüchtlingen aus den ehemaligen Sowjetgebieten sind dies ungefähr 2,5 Millionen Aussiedler oder Spätaussiedler, sogenannte Russlanddeutsche – von denen ein Großteil tatsächlich aber nicht aus Russland, sondern aus Kasachstan oder aus der Ukraine stammt.

Kontakt

PD Dr. Hans-Christian Petersen

Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa

Institut für Geschichte

  • Als er 2019 zu Forschungszwecken in Kyjïv war, fotografierte Hans-Christian Petersen das wohl berühmteste Wahrzeichens der ukrainischen Hauptstadt: das Kyjïver Höhlenkloster, dessen Anfänge auf das 11. Jahrhundert zurückgehen. Es ist eines der ältesten ostslawischen Klöster der Kyjïver Rus, die wiederum den gemeinsamen Beginn der Staatlichkeit der späteren Staaten Russland, Belarus und Ukraine markiert. Foto: Hans-Christian Petersen

  • Hans-Christian Petersen forschte in der Vergangenheit auch in Russland. Schwerpunkte seiner Forschung sind neben russischer und sowjetischer Geschichte auch die Geschichte Polens, Migrationsgeschichte sowie die Kultur und Geschichte der "Russlanddeutschen". Foto: Diana Weilepp

"Tapferkeit, die Mut macht"

Osteuropa-Historiker Hans-Christian Petersen kennt die Hintergründe des Kriegs in der Ukraine - und Menschen vor Ort. Im Interview spricht er über Ohnmacht und Hoffnung, über die postsowjetische Community in Deutschland und ihr „östliches Erbe“.

Die Welt blickt auf den Krieg in der Ukraine. Osteuropa-Historiker Hans-Christian Petersen kennt einerseits die Hintergründe und andererseits Menschen dort persönlich. Im Interview spricht er über Ohnmacht und Hoffnung, über die postsowjetische Community in Deutschland und ihr „östliches Erbe“.

Sie haben vor einigen Jahren begonnen, eine Forschungskooperation mit ukrainischen Partnern aufzubauen, haben 2019 im Kiewer Archiv des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes KGB geforscht. Was hören Sie von dort?

Die Situation ist erschreckend. Der ukrainische Kollege beispielsweise, der mir damals Kyjïv gezeigt hat, stammt aus der ostukrainischen Metropole Dnipro. Er forscht mittlerweile in Deutschland, aber seine Mutter lebt noch in Dnipro und kommt nicht mehr raus. Sie ist vergangene Woche, am Internationalen Frauentag, 82 geworden – und der Familie kam gleich ihr zweiter Geburtstag im Jahr 1942 in den Sinn: Damals stand die Ukraine unter deutscher Besatzung, und Soldaten beendeten das Familienfest gewaltsam, da sie annahmen, es würde der Frauentag gefeiert. 80 Jahre sind vergangen, und es ist wieder Krieg. Um die damalige Zeit geht es auch in den KGB-Akten, deren Erforschung wir 2019 vereinbart haben: Thema sind die sogenannten „Heim ins Reich“-Umsiedlungen unter Hitler 1939/40. In der Ukraine sind die ganzen ehemaligen KGB-Akten offen für die Forschung, anders als in Russland. Allerdings hat die russische Armee nun bereits angekündigt, auch das Geheimdienst-Archiv in Kyjïv zu beschießen – womöglich existiert es bald nicht mehr.

In Russland, genauer in St. Petersburg, haben Sie zuvor für Ihr Habilitationsprojekt geforscht – was erfahren Sie von dort?

Über persönliche Kontakte auch aus meinem Umfeld höre ich, dass viele, viele russische Kolleginnen und Kollegen das Land verlassen, teils sehr fluchtartig, manche zu Fuß über die Grenze, weil die Repression eben inzwischen so stark ist. Freie Meinungsäußerung und freie Wissenschaft sind nicht mehr möglich. Das wird dazu führen, dass viele der verbliebenen kritischen Menschen das Land verlassen werden, dass es noch weniger kritischen Widerstand geben wird als sowieso schon – für Russland verheerend. Es ist ein Trauerspiel, in welcher Geschwindigkeit das Land zugrunde geht.

Für viele Menschen in Deutschland kam der Angriff Putins auf die Ukraine überraschend. Ging es Ihnen als Experte für russische und sowjetische Geschichte genauso? Oder liegt der Punkt, ab dem der Krieg nicht mehr abzuwenden war, eigentlich weiter in der Vergangenheit?

Offen und selbstkritisch auf den Punkt gebracht: Ich habe mich, wir alle haben uns geirrt. Die deutsche Russlandpolitik, die jetzt in Scherben liegt, aber auch manche von uns aus der Wissenschaft haben versagt. Ich gehöre zu denjenigen, die bis wenige Tage vor Kriegsbeginn dachten, Putin baut an der Grenze zur Ukraine lediglich eine maximale Drohkulisse auf, um irgendwelche Zugeständnisse zu erreichen und sie dann wieder abzubauen. Als sich dann am 21. Februar diese beiden vermeintlichen Führer der sogenannten Volksrepubliken – dieser von Moskau abhängigen Pseudostaaten im Osten der Ukraine – erklärten, war glasklar, dass es Krieg geben würde. Am selben Tag sprach Putin der Ukraine das Existenzrecht ab, und es folgte die Eskalation, die leider zu befürchten war. Seither lässt sich quasi in Echtzeit verfolgen und analysieren, wie die russische Seite Fake News und Propaganda produziert – und wir können nur ohnmächtig und entsetzt zusehen.

Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung liegt bei den sogenannten Russlanddeutschen – die aber zu einem Großteil gar nicht aus Russland, sondern aus Kasachstan oder der Ukraine stammen…

In der Tat wurden die Defizite dieses Begriffs nie so klar wie jetzt. Allerdings ist die Lingua franca, also die gemeinsame Sprache dieser Menschen, Russisch – ob sie nun kasachischer, ukrainischer, kirgisischer, belarussischer oder russischer Herkunft sind. Auch die Mehrheit jüdischer Geflüchteter aus der Ukraine spricht Russisch. Aber nur, weil die Menschen es sprechen, sehen sie sich eben nicht gleich als Russen und sind schon gar nicht unbedingt Anhänger der Politik Putins. Wenn nun die Frage in der Luft liegt, wie die Russlanddeutschen sich zu Putins Krieg verhalten, sollte die deutsche Gesellschaft diese Frage genauso an sich selbst richten – und zudem nicht die gesamte Gruppe quasi in einen Topf werfen. Die Diskussionen gehen bei den Russlanddeutschen teils quer durch die Community oder gar quer durch Familien. Zum Teil gibt es die klassische Konstellation, in der die ältere Generation noch eher dazu neigt, der offiziellen russischen Linie zu glauben, und die Jüngeren – auch dank Internet und Sozialen Medien – sehen, was wirklich passiert. Insgesamt ist der Ukraine-Krieg in großen Teilen der russlanddeutschen Bevölkerung denkbar unbeliebt, wenngleich es auch dort in bestimmten Kreisen gezielte Stimmungsmache und Fake News gibt.

Wie ist es den Russlanddeutschen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Deutschland ergangen?

Sozioökonomisch gelten sie als vorbildlich integriert, eine gewisse Mittelschicht hat sich herausgebildet. Zugleich haben viele die Erfahrung gemacht, dass ihre Berufsabschlüsse nicht anerkannt oder zuvor erworbene Rentenansprüche gekappt wurden, weshalb das Risiko für Altersarmut erhöht ist. Ebenfalls ambivalent: Viele kamen mit idealisierten Vorstellungen nach Deutschland – und was sie bekamen, waren stereotype Anfeindungen. Sie wurden als „die Russen“ in Empfang genommen, was nicht freundlich gemeint war. Allerdings tut sich seit einigen Jahren unglaublich viel: Die junge Generation, also diejenigen, die in ganz jungem Alter mitkamen oder hier schon geboren sind, entdecken das Osteuropäische der eigenen Biografie wieder und entwickeln gerade über Online-Formate, Podcasts, Soziale Medien eine hohe Reichweite. Sie verstecken ihr „östliches Erbe“ nicht, und der Begriff „russlanddeutsch“ wird noch einmal ganz neu diskutiert. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Empowerment weitergeht – ungeachtet des Kriegs.

Sie sprachen von der online teils verbreiteten Desinformation, von oftmals eigentlich leicht durchschaubaren Fake News. Wie lässt sich da entgegenwirken?

Gerade habe ich im Rahmen einer Gastprofessur an der Universität Osnabrück ein Seminar zu Verschwörungstheorien gemacht, und da war genau das natürlich das ständige Thema. Eine abschließende Antwort habe ich nicht, aber auf jeden Fall ist Medienkompetenz sehr wichtig. Dass die Schulen früh damit beginnen, Kinder und Jugendliche kompetent zu machen im Umgang mit Medien, ihnen das Rüstzeug an die Hand zu geben, um zu beurteilen, was gezielte Fake News und was Tatsachen sind. Das rührt an die Grundlagen unserer Gesellschaft. Konkret beim Thema Osteuropa kommt oftmals fehlendes Wissen hinzu. Wir reden über eine Großregion, über die die Mehrheit hier wenig bis gar nichts weiß. Das werfe ich niemandem vor, Russland war auch in meinem Geschichtsunterricht wenig präsent. Aber dieser könnte jedenfalls für künftige Schüler und Schülerinnen das Bild vervollständigen – um Europa als Ganzes zu begreifen, nicht nur den Westen.

Wo es an Wissen mangelt, verfängt Propaganda schneller.

Genau. Hinzu kommt ein in der deutschen Gesellschaft verankertes Schuldbewusstsein aufgrund deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion. Das ist ein ehrenwertes Motiv, das ich auch teile – ich war oft in St. Petersburg und weiß, was die Blockade Leningrads war. Es führt aber hier und da zu einem unkritischen Umgang mit Vorgängen in Russland. Dabei wird völlig übersehen, dass diese deutschen Kriegsverbrechen genauso in der Ukraine und in Belarus stattgefunden haben. Dann wird auf Russland geschaut, und die Staaten dazwischen gelten eher als eine Art Pufferstaaten, die sich dem deutsch-russischen Ausgleich unterzuordnen hätten. Dabei ist die Ukraine seit 30 Jahren ein selbstständiges Land! Moskau hat nicht zu entscheiden, was dort passiert. Statt Menschen wie Gerhard Schröder oder Gabriele Krone-Schmalz zuzuhören, die über Jahre oder Jahrzehnte Geld damit verdient haben, ein bestimmtes Russland-Bild zu bedienen, sollten wir hierzulande lieber der postsowjetischen Community zuhören. Die haben unglaublich spannende und verwirrende – aber produktiv verwirrende – Biografien und finden etwa in der Literatur zum Glück zunehmend Gehör.

Worauf hoffen Sie jetzt? Gibt es etwas, das Sie optimistisch stimmt?

Mut machen mir der unglaubliche Widerstand und die Tapferkeit der ukrainischen Bevölkerung. Man muss nicht lange in der Ukraine gewesen sein, um zu verstehen, dass Aufgeben für diese Menschen keine Option ist. Die sind 2014 im Zentrum von Kyjïv, auf dem Maidan, gestorben für ihre Freiheit, die werden nicht aufgeben. Wie Putin jemals annehmen konnte, er könnte binnen weniger Tage die Ukraine einnehmen, ist mir völlig schleierhaft. Andererseits bleibt die drückende militärische Überlegenheit. Dennoch habe ich von dem Kollegen, dessen Mutter in Dnipro im Kriegsgebiet festsitzt, eine ungemein kraftvolle Aussage dazu gehört. Er sagte mir kurz nach Kriegsbeginn, er mache sich keine Illusionen, es werde ganz blutig werden – aber, so seine Worte: „Am Ende, langfristig, werden wir siegen. Weil die Freiheit sich nicht unterdrücken lässt“.

Interview: Deike Stolz

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