Der Historiker Malte Rolf ist Professor für Osteuropäische Geschichte. Im Interview spricht er über die historischen Wurzeln und die Bedeutung des Krieges gegen die Ukraine sowie über Deutschlands neue Sicht auf Osteuropa.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert nun schon fast eineinhalb Jahre und ist nach wie vor auch in den deutschen Medien ein zentrales Thema. Was macht ihn so bedeutsam?
Er ist eine Zäsur für Europa und die Welt – zwar vielleicht nicht in der Schärfe wie der Zweite Weltkrieg, aber doch vergleichbar mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Auswirkungen des Krieges werden auch nicht wieder verschwinden, selbst wenn er irgendwann vorbei ist. Wir sehen eine massive Neukonfigurierung in Europa. Russland drängt sich gerade durch seine aggressiv-imperialistische Politik in vielerlei Hinsicht – politisch, wirtschaftlich, kulturell – aus Europa heraus. Uns stehen aus meiner Sicht zehn, 20 oder 30 Jahre bevor, in denen Russland nur sehr peripher mit Zentral- und Westeuropa verbunden sein wird.
Und die Ukraine?
Sie wird sich zum wichtigen Player in und für Europa entwickeln. Ich gehe fest davon aus, dass sich das Land in westliche Strukturen wie die EU und die Nato integrieren wird. Damit wird eine sehr bevölkerungsstarke und große Nation mit großem symbolischem Gewicht hinzukommen. Ebenso wird die Bedeutung ganz Ost- und Ostmitteleuropas – also von Staaten wie Polen, Tschechien, Rumänien und den baltischen Ländern – auf politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Ebene zunehmen. Letztlich werden auch wir Deutschen uns außenpolitisch neu erfinden. Deutschland könnte aus diesem Konflikt mit einem neuen Selbstverständnis hervorgehen, möglicherweise als Brückenbauer zwischen Ost und West, als wichtiger Fürsprecher der ostmitteleuropäischen Staaten gegenüber den west- und südeuropäischen Ländern, aber letztendlich auch als Staat mit militärischer Bedeutung, als den wir uns lange nicht mehr verstanden haben.
Sie sprechen von einer Zäsur durch diesen Krieg. Hat dieser Bruch tiefere historische Ursachen?
Was die historischen Wurzeln anbelangt, sollten wir zwischen der langfristigen, mittelfristigen und kurzfristigen Perspektive unterscheiden. Die relevanten langfristigen Linien gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Um die heutige Konfliktlage zu verstehen, muss man das russische Imperium vor 1917 betrachten, zu dem auch weite Teile der heutigen Ukraine gehörten. Schon in diese Zeit datiert eine imperiale Politik, die auf eine Unterdrückung, wenn nicht sogar Auslöschung der ukrainischen Kultur und Sprache abzielte. Schon hier haben russische Eliten die Behauptung aufgestellt, dass die Ukrainer keine eigene Nation, sondern eher die „kleinen Brüder“ der Russen seien. Eben diese Vorstellung der fehlenden Eigenständigkeit der Ukraine greifen Putin und andere heute wieder auf, um ihre neo-imperiale Expansionspolitik zu legitimieren.
Die mittelfristige Perspektive auf die Zeit nach dem Umsturz der Bolschewiki ist wichtig, um die Wurzeln der ukrainischen Staatlichkeit zu verstehen. So genossen die Sowjetrepubliken nach der Gründung der Sowjetunion 1922, vor allem aber nach Stalins Tod 1953 einen gewissen Grad an Autonomie, sodass bereits prästaatliche Strukturen und Eliten existierten, als die Sowjetunion zerfiel. Dies hat die ukrainische Staatsgründung 1991 erleichtert.
Und die kurzfristige Perspektive?
Sie betrachtet insbesondere die Transformation seit 1991. Russland und die Ukraine haben sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Vor allem seit Putins Machtübernahme 2000 hat die russische Elite das Imperium als Legitimationsstrategie wiederentdeckt. Es wird nationalistisch überhöht und dient als Rechtfertigung für Aggressionen gegen Nachbarstaaten wie Georgien oder die Ukraine. Zugleich lenkt der Imperialismus ab von den inneren Problemen Russlands wie der enormen Korruption, der großen Armut, aber auch den interethnischen Spannungen im Land. Die massive imperialistische Propaganda, die ständig im russischen Staatsfernsehen läuft, „betäubt“ die Menschen in Russland. Dem Regime Putin ist es gelungen, weite Teile der Bevölkerung vielleicht nicht gleich-, aber doch stummzuschalten.
Die Ukraine hingegen erlebt eine phänomenale staatsbürgerliche Neuerfindung, die eine Erfolgsgeschichte ist. Zugespitzt formuliert hat sie sich seit 1991 und verstärkt seit 2014 dorthin entwickelt, wo Deutschland noch hinmöchte: zu einer staatsbürgerlichen Definition der Nation. Ethnische, konfessionelle, linguistische und kulturelle Unterschiede spielen eine immer geringere Rolle, etwa die Frage, ob jemand Ukrainisch oder Russisch als Erstsprache spricht. Die verschiedenen Identitäten – als Jude, als Krimtatarin, als Orthodoxer verschiedener Kirchen, als Katholikin – werden überwölbt von einem staatsbürgerlichen Bekenntnis zur Ukraine. Und der Krieg wirkt dabei als Beschleuniger dieser Entwicklung.
Kommen wir noch einmal zurück auf Deutschlands künftige Rolle in Ost- und Ostmitteleuropa. Wie haben die Deutschen bisher auf diesen Raum geblickt?
Der Status quo ist immer noch stark geprägt von einer – ich formuliere hier bewusst etwas provokant – quasi-kolonialen Perspektive auf Ost- und Ostmitteleuropa. Diplomatie- wie mentalitätshistorisch war Russland traditionell der wichtige Partner, dem man auf Augenhöhe begegnete. Den Raum „dazwischen“ nahm man lange auch als einen solchen oder schlicht als Verfügungsmasse wahr – wie bei der mehrfachen Aufteilung Polens durch Preußen, Russland und Österreich im 18. Jahrhundert, nicht zuletzt auch beim Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Heute müssen wir uns mehr mit diesem Raum auseinandersetzen, weil die Relevanz Ost- und Ostmitteleuropas zunimmt. Und das wird auch die deutsche Wahrnehmung dieses Teils des Kontinents prägen.
Gibt es ein historisches Beispiel dafür, dass sich die deutsche Wahrnehmung eines anderen Landes schon einmal durch ein Ereignis grundlegend gewandelt hat?
Nach dem polnischen Novemberaufstand 1831 gegen die russische Herrschaft entstand in Deutschland ein neues Polenbild. Dieses Bild der sich gegen die Fremdherrschaft auflehnenden Polen war kompatibel mit dem deutschen Nationalismus und Liberalismus des Vormärz. Es gab Polen-Clubs, es gab eine gesellschaftliche Breitenwirkung. Zeitgenössische Kritiker sprachen spöttisch von „Polenschwärmerei“. 50.000 polnische Flüchtlinge wurden auf ihrem Durchzug nach Frankreich – oft begeistert – begrüßt. Das positive Bild von Polen hielt partiell noch nach 1848 an, bis in die 1860er-Jahre, und kam erst mit der Reichsgründung zum Erliegen.
Die deutsche Regierung unterstützt aus moralischen, völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Gründen die Ukraine etwa durch Waffenlieferungen, Finanzhilfen und die Aufnahme von Flüchtlingen. Gibt es aus Ihrer Sicht auch historische Argumente für diese Hilfen?
Ja, denn auch hier ist die historische Ebene wichtig: So war Deutschland Nutznießer der Sicherungsmächte, die im Rahmen der Nato während des Kalten Krieges 50 Jahre für uns eingestanden sind. Sie haben die Demokratie und wirtschaftliche Prosperität Westdeutschlands erst ermöglicht. So gesehen haben wir auch eine historische Bringschuld, nun selbst einem bedrängten Land zu helfen. Denn heute werden die Ukraine und die ukrainische Zivilbevölkerung Opfer eines verbrecherischen, teils genozidalen Angriffskrieges durch Russland. Solange Russland diesen Krieg weiterführt und letztlich auf die Zerstörung der Ukraine als Staat und Nation abzielt, ist der Schutz der ukrainischen Bevölkerung nur durch massive militärische Unterstützung für die Ukraine leistbar.
Können wir aus der Geschichte dieses Krieges etwas lernen?
Mit den „Lehren aus der Geschichte“ muss man immer etwas vorsichtig sein, weil Geschichte sich nicht einfach wiederholt. Dennoch können wir lernen, dass „Appeasement“, also ein außenpolitisches Entgegenkommen und eine Politik des „Durchgehen-Lassens“, kontraproduktiv ist, wenn man es mit aggressiven Regimen zu tun hat. Im Falle Russlands haben viele Osteuropaforschende lange vor Naivität gewarnt, sind aber mit ihren Warnungen im politischen und medialen Diskurs nicht durchgedrungen. Vielmehr haben weite Teile der deutschen Eliten Putins Aggressions- und auch Kriegsbereitschaft unterschätzt und uns – etwa beim Erdgas – immer abhängiger von Russland gemacht. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen.
Interview: Henning Kulbarsch