• Kinder mit Förderbedarf benötigen eine intensivere Untersützung als andere. Um deren Bedürfnisse auch in der Krise zu berücksichtigen, sollten auch für diese Schülerinnen und Schüler neue Formen des Lernens auf Distanz entwickelt werden, mahnt der Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand. Foto: Adobe Stock/contrastwerkstatt

„Eine Frage von Menschenwürde und Teilhabe“

In der Coronakrise sind Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf aus dem Blick geraten, sagt der Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand. Es sei dringend nötig, auch für sie neue Formen des Lernens auf Distanz zu entwickeln.

In der Coronakrise sind Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf aus dem Blick geraten, sagt der Oldenburger Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand. Es sei nun dringend nötig, auch für sie neue Formen des Lernens auf Distanz zu entwickeln und Lehrkräfte dafür zu rüsten.

Es ist Mitte März, als die Regierungschefs der Länder beschließen, landesweit die Schulen aufgrund der Corona-Pandemie zu schließen. In den eilig erstellten Erlassen und Verordnungen regeln die Verantwortlichen in den Bundesländern beispielsweise die Notbetreuung, die Aufgaben der Lehrkräfte und, sehr grob, das sogenannte Home-Schooling. Was sie dabei offenbar nicht im Blick haben, sind die Bedürfnisse von Kindern mit Förderbedarf.

„In den Dokumenten, die auf den Webseiten der Kultusministerien zugänglich sind, werden diese kaum berücksichtigt“, sagt Prof. Dr. Clemens Hillenbrand. Gemeinsam mit Kollegen der Universitäten Hannover und Wuppertal hat der Sonderpädagoge die offiziellen Dokumente systematisch untersucht – mit ernüchterndem Befund: „Die Verantwortlichen haben die sonderpädagogische Förderung schlicht vergessen und es dem Engagement der Lehrkräfte überlassen“, sagt er.

Verlierer dieser Zeit

Die Gruppe der förderbedürftigen Kinder ist groß – rund sieben Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland benötigen sonderpädagogische Unterstützung. Sie reicht von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder geistigen Behinderungen über jene mit Verhaltensstörungen bis zu Kindern, die körperlich-motorisch eingeschränkt sind. „Diese Heranwachsenden brauchen intensivere Unterstützung als andere“, betont Hillenbrand. Das bedeute vor allem eine direkte, persönliche Interaktion, die eine strukturierte und gute Anleitung beim Lernen und direktes Feedback ermöglicht.

Doch gerade das – Struktur, Unterstützung oder Zusammensein mit Gleichaltrigen – ist aktuell durch die Schulschließungen weggebrochen. Wer Unterstützung benötige, vor allem im Bereich emotional-sozialer Entwicklung oder beim Lernen, habe es nun besonders schwer, erklärt Hillenbrand. „Oft können diese Familien ihre Kinder nicht angemessen unterstützen – auch in technischer Hinsicht“, betont er. „Wir Wissenschaftler und die großen Fachverbände haben daher die große Sorge, dass diese Kinder die Verlierer dieser Zeit sind.“

Zu wenig digitale Hilfsangebote

Aus ihrer Bestandsaufnahme folgern die Forscher vor allem eines: sonderpädagogische Lehrkräfte möglichst bald besser für die aktuellen Herausforderungen zu rüsten. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir weiter Distanz-Lernen brauchen“, sagt Hillenbrand. Doch bisher gebe es für diese Art der sonderpädagogischen Förderung noch zu wenig Hilfsangebote, wie beispielsweise digitale Plattformen, die etwa die Bundesländer bereitstellen.

Hier setzen die Wissenschaftler an: Um herauszufinden, ob und wie Förderlehrkräfte überhaupt schon digitale Tools nutzen, haben Hillenbrand und seine Kollegen im April eine bundesweite Umfrage gestartet, an der sich innerhalb kürzester Zeit rund 700 Lehrerinnen und Lehrer beteiligt haben. Ermutigend sei dabei laut Hillenbrand, dass etwa die Hälfte aller, die an der Umfrage teilgenommen haben, über Messenger-Dienste mit den Kindern während der Schulschließungen Kontakt gehalten haben. Ebenso nutzt gut die Hälfte der Befragten digitale Hilfsmittel, allerdings hauptsächlich, um Lernmaterialien zuzusenden.

Geringe Selbstwirksamkeit

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die andere Hälfte der an der Umfrage beteiligten Lehrkräfte noch keine digitalen Hilfsmittel verwenden. Die Forscher wollen ermitteln, warum dies so ist. Welche digitalen Tools sind beispielsweise barrierearm zugänglich – sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Schülerinnen und Schüler? Eine technische Barriere sei etwa, dass vorhandene, anspruchsvolle Lernprogramme nur auf einer CD-ROM, aber nicht online zugänglich sind – etwa, weil sie einer Verlagsbindung unterliegen, erläutert Hillenbrand.

Auch das mangelnde Know-how vieler Lehrkräfte stehe dem Lernen auf Distanz oft im Wege: So wissen die Forscher aus verschiedenen Studien, dass sich sonderpädagogische Lehrkräfte im Umgang mit förderbedürftigen Kindern meist als sehr selbstwirksam empfinden. Das bedeute, dass sie Probleme im direkten Kontakt erfolgreich lösen können wie etwa schwierige Situationen im Unterricht, erläutert Hillenbrand. Doch im Umgang mit dem digitalen Lernen sei dies nicht so. „Die Befragten empfinden sich oft als nicht selbstwirksam.“

Krise ist auch eine Chance

Ein Grund dafür sei, dass es hier zu wenig Professionalisierung gebe – sowohl bei der Ausbildung der Lehrkräfte als auch bei der Fortbildung, sagt der Hochschullehrer selbstkritisch: Es gebe zwar einzelne solcher Elemente in der Ausbildung. Beispielsweise lernen angehende Lehrkräfte digitale Werkzeuge kennen, mit denen sie den Lernverlauf diagnostizieren und analysieren oder nutzen einzelne Programme, die das Lernen in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen fördern. Aber für diese spezielle Situation sei das viel zu wenig, betont Hillenbrand. „Da zeigen sich Zukunftsaufgaben für die Lehrerbildung und Fortbildung.“

Gemeinsam mit Kollegen anderer Fächer wollen die Sonderpädagogen sich jetzt auch der Frage widmen, wie gutes digitales Lernen für die Zielgruppe überhaupt aussieht. Wie müssen etwa Lernmaterialien gestaltet sein, damit beispielsweise auch lernschwache Schüler Fortschritte machen oder Gelerntes vertiefen können? „Erst, wenn wir darüber mehr wissen, können wir das Distanzlernen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen angemessen gestalten“, sagt der Sonderpädagoge. So gesehen sei die gegenwärtige Krise auch eine Chance, da sie den Blick auf diese Fragen lenke und Schwächen offenlege.

Hillenbrand zieht nicht nur für die Forschung Schlüsse, sondern auch für die Bildungspolitik, die er in der Pflicht sieht. So sei es zwingend erforderlich, dass bei künftigen Entscheidungen die Fachverbände und Vertretungen der Lehrkräfte stärker mit einbezogen werden. Und man müsse den Verantwortlichen in den Schulen mehr Entscheidungshoheit übertragen, betont Hillenbrand. Nur so seien individuelle Lösungen für Kinder mit sehr unterschiedlichem Förderbedarf möglich. Das sei für ihn „eine Frage von Menschenwürde und Teilhabe am Bildungssystem.“

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