Im Kontext der Nachhaltigkeit hat sie Konjunktur: die Nische. Ob räumlich verstanden oder aber metaphorisch als Rückzugsort – über ihren Reiz sprechen im Interview Rechtshistorikerin Johanna Rakebrand und Soziologe Jedrzej Sulmowski.
Repair-Cafés, solidarische Landwirtschaft oder Öko-Dörfer sind nur einige Beispiele gemeinschaftsbasierter Initiativen, die sich – oder denen andere – oft zuschreiben, aus einer Nische heraus den Weg in eine nachhaltige Zukunft zu ebnen. Sie beide haben sich im Team des Forschungsprojekts „Transformation durch Gemeinschaft“ in den vergangenen drei Jahren damit beschäftigt und dem Reiz der Nische kürzlich eine ganze Tagung gewidmet. Was macht ihn aus?
Rakebrand: Die Vorstellung davon, dass es eine kleine, irgendwie andersartige Welt innerhalb der Welt geben könnte: das ist der Reiz. Mich interessiert an dieser Denkfigur vor allem, welche Differenz mit dieser Unterscheidung erst aufgemacht wird: hier die kleine Nische, die als gutes Beispiel vorangehen soll in eine nachhaltige Zukunft, und dort der eher behäbige, beinahe trantütig gezeichnete Mainstream. Der Nischenbegriff wird in der Nachhaltigkeitsforschung genutzt: Etwa das Umweltbundesamt deklariert bestimmte Initiativen als gute Beispiele und als Nischen – mit transformativem Potenzial für die gesamte Gesellschaft, so zumindest das Narrativ. Mich treibt die Frage um, was diese Unterscheidung mit sich bringt. So stand auch bei unserer Tagung die Frage im Raum: Liegt das Allgemeine brach, wenn wir uns so für die Nische interessieren? Und wer wird eigentlich besonders hervorgehoben? Diese Fragen haben mich an dem Projekt gereizt.
Sulmowski: Die Nische bietet Raum für Assoziationen. Viele verstehen sie als einen geschützten Raum, in dem sich etwas Neues entfalten kann. Hingegen definiert Ökologie die Nische weniger über ihre Schutzfunktion, sondern als Bedingung für das Überleben von Arten. Wenn auf dem Feld der Nachhaltigkeit von Nischen die Rede ist, ist zumeist das Erstere gemeint: Nischen sind Schutzräume, innerhalb derer Innovationen entstehen, die es etwa erlauben, Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Auffällig ist dabei, dass die Theorie solche innovationsträchtigen Nischen stets auf der gesellschaftlichen Mikroebene verortet.
Bieten demnach allein Nischen die Chance auf Innovation?
Sulmowski: In der Theorie, etwa dem bekannten Transition-Ansatz, ist das so. Demnach nehmen Innovationen ihren Anfang im Kleinen, in Nischen, und werden dann hochskaliert beziehungsweise von größeren Akteuren übernommen. Aber eine klare Antwort auf die Frage, ob das so zutrifft, habe ich bislang nicht gefunden.
Und gesellschaftliche Nischen in diesem Sinne gibt es ja nicht erst seit Neuestem…
Sulmowski: Es gibt viele historische Beispiele, in denen solche Räume entstanden, etwa Enklaven von Menschen, die Unterdrückungsverhältnissen entkommen sind, wo andere Regeln galten und die Unterdrückung aufgehoben war. Im 17./18. Jahrhundert bildeten sich immer mehr Gemeinschaften, die sich zum Ziel setzten, das Zusammenleben oder das Wirtschaften anders zu gestalten. In der Nachkriegszeit entstand ein gesellschaftspolitischer Ansatz, in dem es darum geht, Veränderungen weniger über große Reformen als vielmehr über konkrete Projekte zu verwirklichen. Gleichzeitig hat sich das Selbstverständnis des Einzelnen in der Gesellschaft dahingehend gewandelt, dass neben oder anstatt Kollektiven wie Gewerkschaften, die auf dem Prinzip der Interessenrepräsentation fußen, durchaus Individuen gesellschaftliche Entwicklungen befördern könnten.
Sind Nischen also auch ein Ausdruck von Individualisierung?
Sulmowski: Individuen bieten sie die Möglichkeit, dort ihre Wirkmächtigkeit zu erfahren und eine Mission der gesellschaftlichen Veränderung zu leben. Das mag letztendlich illusorisch sein, aber das ist die Funktion, die die Nische erfüllt, und das macht sie so attraktiv.
Rakebrand: Wobei es zu bedenken gilt, wie voraussetzungsreich dies ist: Um sich selbst „in die Nische begeben“ zu können, müssen schon viele gesellschaftlich hergestellte Rahmenbedingungen gegeben sein. Ich würde sagen, dass gerade das moderne Gesellschaften ausmacht. Sie bieten die Möglichkeiten, sich selbst als anders zu verstehen, sich abzugrenzen. Diese Offenheit ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Das war ja nicht immer möglich und ist es auch heute nicht überall.
Will die Gesellschaft sich aus Nischen heraus denn neu erfinden, oder trägt das Deklarieren von Nischen eher dazu bei, dass der übrige Status quo weitgehend so bleibt? Wenn etwas transformative Wirkung entfalten will oder soll, müsste es ja irgendwann aus der Nische heraus?
Sulmowski: In der Forschungsförderung ist mit der Zuwendung zu den Nischen schon die Hoffnung verbunden, dass sich die dort neu entwickelten Praktiken nachahmen, hochskalieren lassen. Im Lichte der erwähnten Theorie sollen Innovationen von dort aus in die Gesellschaft diffundieren.
Rakebrand: Dabei ist gar nicht klar, ob andere Leute das nachahmenswert finden, ob sie eigentlich so leben möchten, wie es vorgemacht wird. Auch das ist Teil des Forschungsprojekts gewesen. Es lässt sich auch fragen, wem da eigentlich angeblich etwas gezeigt werden muss. Historisch betrachtet wurde beispielsweise das Landleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem von einem urbanen Bürgertum gehypt. Zeitschriften thematisierten bestimmte Arten der Ernährung und des gesunden Lebenswandels in Abgrenzung dazu, was als verbesserungswürdig und ungesund galt. Es ist interessant, welche Unterscheidungen damit aufgemacht werden.
Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, wirft man dann auch einen kritischen Blick auf die Forschungsförderung selbst?
Rakebrand: Man ist Teil dieses Phänomens, bringt es mit hervor. Aber dieses Wissen um die eigene Beteiligung kann man für die Forschung auch nutzen.
Sulmowski: Wir haben uns immer wieder gefragt und auch darüber gestritten, inwiefern wir uns von einer bestimmten politischen Agenda vereinnahmen lassen, die sich für kleinere Phänomene interessiert, statt über die großen Hebel, die in einer Demokratie ebenfalls zur Verfügung stehen, eine Veränderung herbeizuführen: Wenn man den Weg über Nischen geht, vergisst man dann nicht die üblichen politischen Mittel zur Veränderung? Lenkt man die Aufmerksamkeit weg? Oder ist es ein Ausdruck der Hilflosigkeit von Politik? Das war immer wieder Thema innerhalb des Teams.
Rakebrand: Reizvoll an der Nische ist ja auch, dass dort eine Tatsache wie der Klimawandel sich vermeintlich in den Modus der Bearbeitung überführen lässt – und dann auch noch auf so tatkräftige, anschauliche Art und Weise. Das ist natürlich hochattraktiv für Forschung und Forschungsförderung: es gibt etwas Konkretes zu sehen. Was dabei ausgeblendet wird – an Unwägbarkeiten, an politischer Verantwortung, an klassischen, eher mühseligen und weit weniger anschaulichen Mitteln der Problembearbeitung – auch das war Teil des Projekts.
Gibt es eine Nische, in der Sie gerne sind?
Sulmowski: Als konkreter Raum ist auf dem Campus der Uni Oldenburg die Bibliothek meine Lieblingsnische. Aber mit dieser „Brille“ auf mein eigenes Leben zu schauen, das habe ich tatsächlich bisher noch nicht gemacht.
Rakebrand: Was mir noch einfiele vor dem Hintergrund von Corona: dass die pandemiebedingte „Vernischung“ gerne bald auch ein Ende haben darf!
Interview: Deike Stolz