Wenn die Gesellschaft sich selbst beobachtet: Das „Diagnostizieren (in) der Moderne“ steht im Mittelpunkt eines an der Universität koordinierten neuen Wissenschaftlichen Netzwerks, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) drei Jahre lang fördert.
Diagnosen werden in Arztpraxen gestellt – aber auch in vielen anderen Bereichen des täglichen Lebens. „Das Diagnostizieren charakterisiert moderne Gesellschaften“, sagt der Oldenburger Historiker Dr. Nikolaus Buschmann. Ob internationale Bildungsvergleiche oder das Assessment Center zum Besetzen einer Traumstelle, ob die Talentsichtung im Sport oder das Ableiten politischer Maßnahmen aus Corona-Statistiken – ständig entwickeln oder nutzen Menschen Verfahren, die ihnen helfen sollen, Probleme zu erfassen oder Potenziale zu erkennen, um zukunftsgerichtete Entscheidungen treffen zu können. „Der Zustand etwa einer Gesellschaft, der Umwelt oder eines Individuums soll kalkulierbar werden“, so Buschmann. Er ist einer von insgesamt 17 Forschenden aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, die in einem neuen DFG-geförderten Netzwerk untersuchen werden, wie das Diagnostizieren unseren Alltag prägt. Dabei werden sie sich mit weiteren, auch internationalen Expertinnen und Experten austauschen.
Das interdisziplinäre Netzwerk ist unter dem Dach des Wissenschaftlichen Zentrums „Genealogie der Gegenwart“ (WiZeGG) an der Universität Oldenburg angesiedelt. Beantragt wurde es vom derzeitigen Direktor des WiZeGG, Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Soziologe am Institut für Sportwissenschaft. Zusammen mit dem Amerikanisten und stellvertretenden WiZeGG-Direktor Prof. Dr. Martin Butler sowie Buschmann als Geschäftsführer des Zentrums wird er den Austausch innerhalb des Netzwerks in den kommenden drei Jahren koordinieren. Ebenfalls beteiligt ist das Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst (HWK), in dessen Räumlichkeiten auch das erste und das letzte der insgesamt sechs geplanten Arbeitstreffen stattfinden sollen.
„Wir wollen näher ergründen, wie das Diagnostizieren gesellschaftliche Diskurse prägt und in den Alltag hineinragt“, erläutert Buschmann. „Welche Diagnosen und damit welche Themen erachtet wer als relevant oder irrelevant? Wie führen sich moderne Gesellschaften Krisen und Herausforderungen vor Augen, etwa die Corona-Pandemie, den Klimawandel, Digitalisierung oder Migration?“ Das Netzwerk werde auch die historische, gesellschaftspolitische Dimension in den Blick nehmen, etwa in puncto Bevölkerungspolitik und Städteplanung, und zudem nationale sowie regionale Unterschiede analysieren. So soll es die – auch internationale – Sichtbarkeit des Themas erhöhen und den beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Forschungsperspektiven eröffnen.
In den Arbeitstreffen wird das Netzwerk nacheinander Konzepte, Felder, Institutionen, Orte, Techniken, Darstellungsformen und Medien des Diagnostizierens unter die Lupe nehmen. Zu den hochkarätigen externen Gästen zählen unter anderem die Bamberger Soziologin Prof. Dr. Heike Delitz, der Düsseldorfer Historiker Prof. Dr. Achim Landwehr, der Konstanzer Germanist Prof. Dr. Albrecht Koschorke, die Wiener Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Eva Horn sowie der Geograph, Philosoph und Soziologe Prof. Dr. Theodore Schatzki (University of Kentucky, USA, und Lancaster University, England). Am Ende sollen ein gemeinsamer Sammelband und ein Forschungskonzept für ein größeres Verbundprojekt stehen.
Aus dem Kreis der Oldenburger Forschenden und Lehrenden sind neben Alkemeyer, Butler und Buschmann auch der Kulturhistoriker Prof. Dr. Thomas Etzemüller, die Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Anna Langenbruch, die Sozialwissenschaftlerin Dr. Andrea Querfurt sowie die Kunsthistorikerin Dr. Anja Zimmermann beteiligt.