Was machen Einschränkungen, die die Pandemie mit sich bringt, eigentlich mit den Jüngsten? Sonderpädagogin Tanja Jungmann spricht im Interview über Orientierung im Alltag, wachsende Wissenslücken – und Schutzfaktoren, die Kinder für die Krise wappnen können.
Freunde und Großeltern auf Distanz, Unterricht vielfach weiterhin außerhalb der Klassenzimmer – was macht die aktuelle Situation mit Kindern?
Dass zum Beispiel durch Schul- und Kitaschließungen vieles weggefallen ist, was sonst den Alltag strukturiert, verwirrt viele Kinder, führt auch zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Wir Erwachsenen fühlen uns ja ebenfalls verunsichert. Und wenngleich das Bedrohliche einer Pandemie nicht im Einzelnen bei Kindern ankommen mag, so bekommen sie doch mit, dass die Eltern besorgt sind. Dies kann ihre Orientierungslosigkeit noch verstärken. Wie einschneidend so etwas ist, hängt davon ab, wie gut es den Kindern und ihren Eltern gelingt, gemeinsam eine Tagesstruktur aufrecht zu erhalten. Kinder brauchen ganz stark Routinen. Emotional kann es auch helfen, wenn man ihnen altersgerecht die bekannten Informationen weitergibt und dabei durchaus auch die Unsicherheiten offen benennt.
Von welchen Faktoren hängen die Auswirkungen auf Kinder denn ab?
Zum Beispiel die genaue Konstellation, in der die Familie momentan den Alltag zu bewältigen versucht. Wenn jetzt beide Eltern im Homeoffice arbeiten, sitzen natürlich alle mehr oder weniger auf engem Raum, und alle müssen sich möglichst auf ihre Arbeit beziehungsweise die Schulaufgaben konzentrieren. Da muss es kein Vorteil sein, dass beide Partner da sind, die Beengtheit kann auch zu mehr Konflikten führen. Ich höre aus Familien Unterschiedliches, von „Wir haben uns noch nie so gut verstanden wie im Moment“ bis hin zu „Das ist der absolute Horror, wir fetzen uns – auch als Paar – jeden Tag“. Alleinerziehende haben wiederum ganz andere Herausforderungen zu stemmen. Wo es eskaliert, erleben Kinder eine Zunahme häuslicher Gewalt. Und natürlich nimmt in relativer Isolation auch die Gefahr von psychischen Erkrankungen zu – bei Eltern wie bei Kindern.
Gibt es persönliche Faktoren, die unsere Kinder für diese Zeiten zumindest in einem gewissen Ausmaß wappnen?
Persönliche Faktoren spielen eine große Rolle. Ein Schutzfaktor für Kinder ist sicherlich, sich gut selbst organisieren und konzentrieren zu können. Für Kinder, die Konzentrationsprobleme haben, leicht ablenkbar sind, eine geringe intrinsische Motivation mitbringen, sind die Einschränkungen durch die Pandemie dramatisch. Da haben sich in relativ kurzer Zeit riesige Wissenslücken aufgetan.
Und wie steht es emotional um die Kinder, um ihre soziale Entwicklung?
Für die emotional-soziale Entwicklung ist der Kontakt zu anderen Kindern immens wichtig. Soziales Verhalten lerne ich nur im Kontakt mit anderen. Durch die soziale Isolation geraten Kinder, die ohnehin Probleme in diesem Bereich haben, zwar weniger in soziale Konflikte mit Gleichaltrigen. Mit Gewalt auf Schulhöfen oder Mobbing in der Schule haben wir in diesen Zeiten somit natürlich weniger Probleme. Doch das Aggressionspotenzial bleibt, und die Kinder leben es eher zuhause aus. Und internalisierte Schwierigkeiten wie Angststörungen oder eine Neigung zur Depressivität dürften sich in einer solchen Krisensituation durchaus verstärken. Grundsätzlich kann man sagen: Je kürzer die Einschränkungen dauern, umso weniger werden sie sich auf die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern auswirken.
Sie erwähnten Schutzfaktoren, die die Kinder für eine solche Krisenzeit stärken. Können Sie das noch näher ausführen?
Ein intaktes soziales Netz, eine gute Eltern-Kind-Bindung, überhaupt funktionierende Bindungen und Beziehungen können die Kinder stabilisieren. Diese Dinge sind entwicklungsförderlich und stellen in diesen Zeiten einen Schutzfaktor dar. Das kann auch die Beziehung zum Lehrer oder zur Lehrerin sein – einfach gute Strukturen, die die Kinder auffangen, ob schulisch oder in der sonstigen Lebenswelt.
Und wie sieht es mit Risikofaktoren aus?
Kinder, denen soziale Kompetenz und prosoziales Verhalten fehlen, die psychische Auffälligkeiten zeigen und auch nicht in einem Elternhaus aufwachsen, das die aktuelle Situation reflektieren und auffangen kann, sind sicherlich ungleich stärker gefährdet, zurückgeworfen zu werden. Schon nach den jährlichen sechswöchigen Sommerferien berichten Lehrkräfte regelmäßig, dass vorherige Fortschritte von Schülern mit emotional-sozialen Auffälligkeiten vollständig verpufft sind. Dabei sind in den Ferien immerhin noch soziale Kontakte möglich, jetzt entfällt auch das weitestgehend. Wenn man die psychosoziale Entwicklung als Waage sieht, deren Waagschalen im Gleichgewicht sein sollten, gerät diese aktuell schneller in eine Schieflage: wenn die sozialen Ressourcen der Kinder auf der einen Seite die Belastungen auf der anderen Seite nicht ausgleichen können.
Inwieweit lassen sich die so wichtigen sozialen Kontakte über den Bildschirm aufrechterhalten?
Zumindest kann man sich unterhalten, man sieht sich immerhin. Wobei Eltern die Zeit ihrer Kinder vor Bildschirmen sicherlich im Blick behalten sollten – das gilt übrigens auch für Jugendliche. Was die Kommunikation über den Bildschirm allerdings nicht ersetzen kann, ist unser Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder von ihren Eltern in den Arm genommen werden, dass sie den Körperkontakt bekommen, den sie mit anderen Kindern im Moment nicht haben dürfen. So schön und hilfreich die Digitalisierung auch ist: Was Kindern fehlt ist, dass sie in irgendeiner Form körperlich miteinander agieren, ob beim Fußballspiel auf dem Schulhof oder beim Raufen. All das ist für die motorische, aber zugleich auch die sozial-emotionale Entwicklung wichtig. Die eigenen Grenzen und diejenigen anderer zu testen und kennen zu lernen, zu erfahren, wann ich eigentlich aufhören muss, das geht nicht. Möglicherweise führen die aktuellen Einschränkungen dazu, dass viele – auch Jugendliche, bei denen nicht erst seit Corona viel übers Smartphone läuft – die Möglichkeit, sich persönlich zu sehen, wieder mehr wertschätzen werden.
Abgesehen von beispielsweise sozial auffälligen Kindern – wen sollten wir unter den Jüngsten in unserer Gesellschaft noch besonders im Blick behalten?
Für Kinder, die noch in der Sprachentwicklung stecken, und besonders für diejenigen mit sprachlichen Auffälligkeiten, mit Hörstörungen ist natürlich das Tragen von Masken an vielen öffentlichen Orten ein massives Problem. Immerhin 30 Prozent der Wörter werden vom Mund abgelesen, nonverbale Informationen helfen beim Sprachverständnis – und für diese Kinder entscheidet das zu einem Gutteil darüber, ob sie im Alltag kommunizieren können oder nicht. Wenn es um Störungen des Hörens und der Aussprache geht, auch in der Logopädie, bräuchte man spezielle Masken, bei denen die Mundpartie sichtbar bleibt. Grundsätzlich gilt: Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf egal welcher Art werden bislang nicht systematisch in den Blick genommen. Es gibt Positionspapiere von Verbänden, aber im allgemeinen Bewusstsein ist es nicht angekommen. Da gibt es also noch großen Nachholbedarf.
Interview: Deike Stolz