Virologen, Epidemiologen, Statistiker: In der Krise kommen unterschiedliche Experten zu Wort, deren Aussagen sich manchmal widersprechen. Das scheint Politik und Gesellschaft zunehmend zu verunsichern – Zweifel an der Wissenschaft werden lauter. Im Interview erklärt Wissenschaftsphilosoph Mark Siebel, dass Wissenschaft keine einfachen Wahrheiten liefert und dass wir mehr darüber wissen sollten, wie Forschung eigentlich funktioniert.
Herr Professor Siebel, wissen die Experten derzeit nicht, wovon sie sprechen?
Nein, so ist das nicht. Wenn zwei Experten Unterschiedliches sagen, kann das zwar bedeuten, dass einer von beiden falsch liegt. Aber aus unterschiedlichen Meinungen den Schluss zu ziehen, dass man den Experten nicht trauen darf, weil sie nicht wissen, was sie erzählen, finde ich sehr heikel. Es stimmt, dass es in der Naturwissenschaft keine absoluten Wahrheiten und keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Ob es sich bei einer neuen Annahme am Ende auch um eine Erkenntnis, also eine Wahrheit, handelt, kann sich erst im Laufe der Zeit herausstellen. Deswegen ist es kein Wunder, dass Wissenschaftler zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Aber man muss hier differenzieren: Selbst wenn man keine absolute Sicherheit hat, kann man ja eine über 50-prozentige Sicherheit haben. Das heißt, dass es bessere Gründe für eine bestimmte Auffassung gibt als für das Gegenteil davon.
In dieser besonderen Krisenzeit finden typische wissenschaftliche Diskurse verstärkt im öffentlichen Raum statt und nicht, wie sonst üblich, in Fachkreisen. Worauf sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dabei achten?
Sie sollten sich vorsichtig äußern und nicht mit absoluter Selbstgewissheit sagen: „Wir haben jetzt festgestellt …“. Glücklicherweise ist es ja hierzulande so, dass sich die meisten derzeit auch so verhalten. Beispielsweise Lothar Wieler, der Leiter des Robert-Koch-Instituts, oder der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité. Von ihnen hört man eher Sätze wie: „Wir müssen noch abwarten, wir haben noch nicht die entsprechenden Erkenntnisse.“ Ich denke, das sind Vorbilder. Natürlich muss man sich auch Gedanken darüber machen, wann die Folgen der Schutzmaßnahmen schlimmer werden als das, was passieren würde, wenn man bestimmte Maßnahmen zurücknimmt. Darüber muss man sprechen. Aber es ist inakzeptabel, wenn dies mit Wissenschaftsbashing einhergeht.
Sollten Experten denn wissenschaftliche Unsicherheiten und die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis in jedem Falle aufzeigen?
Das ist eine Gratwanderung. Wenn man dies permanent tut, könnte bei einigen der Eindruck entstehen, dass Wissenschaftler eigentlich nichts zu sagen haben. Dennoch: Wissenschaftler müssen klar aussprechen, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen. Oder sich auch mal zurückhalten, wenn noch keine Aussagen getroffen werden können. Was man aber auf jeden Fall vermitteln sollte ist, dass wissenschaftliche Erkenntnis an Sicherheit gewinnt, wenn weitere Studien und weitere experimentelle Ergebnisse vorliegen.
Brauchen wir generell ein besseres Verständnis dafür, wie Wissenschaftler eigentlich arbeiten?
Das wäre gut. Wenn bekannter wäre, wie wissenschaftliche Arbeit funktioniert, dann könnte ein größerer Teil der Bevölkerung auch besser mit Unsicherheiten und antiwissenschaftlichen Tendenzen umgehen. Darauf könnte und sollte man beispielsweise schon stärker im naturwissenschaftlichen Schulunterricht abzielen. Schülerinnen und Schüler sollten wissen: Experimente können auch mal schiefgehen, und man erhält nicht unbedingt genau die Ergebnisse, die man prognostiziert hat. Sie sollten auch wissen, dass es Fehler gibt, die man einberechnen muss, etwa durch Messinstrumente.
Sie plädieren also für einen praktischen Zugang zur Wissenschaftsphilosophie in Schulfächern wie Physik, Chemie oder Biologie …
Ja! Wahrscheinlich hat jeder mal erlebt, wie das Experiment eines Chemielehrers komplett danebengegangen ist. Oft fangen dann alle an zu lachen, aber kaum jemand hat etwas daraus gelernt. Man sollte lieber überlegen: Was genau ist schiefgelaufen? Wie kann man es besser machen? Wir brauchen ein grundlegendes Verständnis für den Zusammenhang von Theorie und Experiment. Alle sollten wissen, dass es zwar keine hundertprozentige Sicherheit, aber zumindest eine immer größere Sicherheit geben kann. Dies sind grundlegende Dinge, die im Schulunterricht vermittelt werden sollten. Aber auch an den Universitäten wäre es hilfreich, wenn mehr Wissenschaftstheorie betrieben würde, beispielsweise in Einführungsvorlesungen. Dann hätten wir alle einen besseren Eindruck davon, wie Wissenschaft funktioniert.
Könnte dies helfen, antiwissenschaftliche Tendenzen einzudämmen?
Das hoffe ich zumindest. Es gibt ja Menschen, wie etwa Donald Trump, die sich lieber auf den sogenannten gesunden Menschenverstand als auf wissenschaftliche Erkenntnisse verlassen. Doch der gesunde Menschenverstand, der „common sense“, hilft nicht immer weiter. Ein Beispiel, an dem man das sehr schön sehen kann, ist das Händewaschen. Es ist wissenschaftlich belegt, dass das Coronavirus eine Lipidhülle – also eine Hülle aus Fettsäuren – hat. Diese Hülle lässt sich mit Seife beseitigen und man zerstört so das Virus. Der gesunde Menschenverstand kann einem dies nicht sagen. Dafür braucht es wissenschaftliche Forschung.
Was würden Sie jenen entgegnen, die jetzt in der Coronakrise an der Wissenschaft zweifeln?
Es gibt einen Punkt, der wirklich jedem zeigen sollte, dass wir Wissenschaft gerade jetzt brauchen: Das ist der Impfstoff. Wo soll der herkommen? Man muss die biologischen und chemischen Grundlagen kennen. Man muss Versuche unternehmen und sehen, inwieweit die Impfung wirkt. Da sollte jedem klar werden: Wir brauchen die Wissenschaft, damit die Welt wieder besser wird.
Interview: Constanze Böttcher