Von der Förderschule in die Werkstatt: Für viele Jugendliche mit geistiger Behinderung scheint das Berufsleben vorgezeichnet, ohne dass stärker auf ihre Wünsche und Vorstellungen eingegangen wird. Die Sonderpädagogin Andrea Erdélyi möchte das ändern – mit speziellen Arbeitsmaterialien.
Als Prof. Dr. Andrea Erdélyi noch als Sonderpädagogin an einer Schule arbeitete, erzählte ihr eine geistig behinderte Schülerin von ihrem Berufswunsch: Ärztin wolle sie werden. Ein Ding der Unmöglichkeit für einen jungen Menschen, der niemals Abitur machen, geschweige denn studieren würde. Erdélyi kam mit ihr ins Gespräch über ihre Beweggründe und Leidenschaften. Dabei stellte sich heraus, dass es der jungen Frau vor allem darum ging, in ihrem Beruf für andere da zu sein – so wie sie sich um ihre jüngeren Geschwister kümmerte. Gemeinsam mit der Schülerin machte sich Erdélyi auf die Suche nach einem Berufsfeld, das für sie passen könnte.
Viele berufliche Stationen liegen zwischen Erdélyis Zeit als Sonderpädagogin an einer bayrischen Schule und ihrer jetzigen Tätigkeit als Professorin für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung an der Universität Oldenburg. Aber ihre Motivation hat sich über all die Jahre nicht verändert: „Ich möchte, dass Menschen mit geistiger Behinderung mit ihren Vorstellungen, Wünschen und Zielen angehört und ernst genommen werden.“ Doch wie soll das konkret aussehen, wenn junge Erwachsene nur bruchstückhaft Sätze formulieren können?
Vorgezeichnete Lebenswege
Oft mangelt es an Konzepten und Kommunikationshilfen, etwa beim Übergang zwischen Schule und Beruf. Hier setzen Erdélyi und ihr Team an: In den Projekten TiT („Teilhabe im Transitionsprozess“) und STABIL („Selbstbestimmung und Teilhabe für Alle in Berufswahl und Berufsbildung“) entwickeln sie Konzepte und Materialien zur Berufsorientierung – vom Arbeitsordner bis zur App. Sie sollen den jungen Erwachsenen ermöglichen, sich in Fällen, in denen sonst Eltern und Betreuer über sie entscheiden würden, künftig selbst zu äußern.
Dass Jugendliche mit geistiger Behinderung gefragt werden, wie sie sich ihr Berufsleben vorstellen, ist nämlich keineswegs selbstverständlich: „Oft ist ihr Lebensweg vorgezeichnet“, sagt Erdélyi. Viele besuchen bis heute von Anfang an eine Förderschule. Diejenigen, die inklusiv „beschult“ werden, wechseln meist nach der Grundschule auf Förderschulen. Anschließend absolvieren sie eine zwei- bis dreijährige Berufsbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen und arbeiten danach dort weiter. Laut einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2017 bieten nur etwa ein Prozent aller ausbildenden deutschen Unternehmen Ausbildungsplätze für Menschen mit geistiger Behinderung an.
Von Bildsymbolsystemen bis zu Sprachcomputern
Oft scheitert die Kommunikation über die Berufswünsche der Jugendlichen aber auch daran, dass diese sich nur eingeschränkt ausdrücken können. Dabei existieren unter dem Oberbegriff „Unterstützte Kommunikation“ eigentlich bewährte Kommunikationshilfen, mit denen sich Menschen mit geistiger Behinderung verständlich machen können – nicht nur über aufwendige Sprachcomputer, sondern zum Beispiel über einfache Bildsymbolsysteme.
Mehr als ein Viertel der Schülerinnen und Schüler an niedersächsischen Förderschulen ist auf Unterstützte Kommunikation angewiesen, so das Ergebnis einer landesweiten Studie, die Erdélyi gemeinsam mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Ingeborg Thümmel durchgeführt hat. Doch nur ein geringer Teil der Jugendlichen erhält die benötigte Hilfe – unter anderem, weil Lehrkräfte mit den verschiedenen Kommunikationsmitteln zu wenig vertraut sind. Besonders maßgeblich, so Erdélyi, sind diese Hilfestellungen in der kritischen Phase des Übergangs von der Förderschule zum Beruf. Aus zwei Gründen: Zum einen sind sich Jugendliche oft nicht über ihre eigenen Pläne im Klaren oder können diese nicht artikulieren. Zum anderen werden Lehrende in der neuen Umgebung häufig nicht darüber informiert, ob die Jugendlichen Unterstützte Kommunikation benötigen und welche Kommunikationsformen sie nutzen.
Selbst- statt Fremdbestimmung
In einem Vorgängerprojekt erstellten Erdélyi und Thümmel daher ein erstes Konzept und Arbeitsmaterialien, die „Oldenburger Box of Tools“ (OLBoT). Für den Übergang von der Schule ins Arbeitsleben enthält sie einen sogenannten „Zukunftsleporello“, ein „Ich-Buch“ sowie ein „Übergangsprotokoll“. Letzteres ist bereits ein bewährtes Instrument, mit dem Lehrkräfte zum Abschluss der Schulausbildung die Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler beschreiben. Im Rahmen des Projekts ergänzte es Erdélyi um den Aspekt der Unterstützten Kommunikation: Lehrerinnen und Lehrer können beispielsweise nun notieren, ob ein junger Erwachsener in seiner Kommunikation auf Gebärden, Bildsymbole oder Sprachcomputer angewiesen ist.
Das Zukunftsleporello enthält Arbeitsmaterialien, die Lehrkräfte verwenden können, um Berufsorientierung im Unterricht zu thematisieren und die Jugendlichen dabei anzuleiten, ihre eigenen Träume, Ängste und Wünsche zu äußern. Beim Konzept des sogenannten „Ich-Buchs“ handelt es sich um einen Ordner, in dem Jugendliche und Heranwachsende sich selbst mit ihrem sozialen Umfeld, ihren Interessen, Stärken, Schwächen und Wünschen vorstellen. Zum Ausfüllen der Materialien verwenden die Schülerinnen und Schüler zumeist „METACOM“ – ein etabliertes Symbolsystem zur Unterstützten Kommunikation mit über 10.000 Symbolen, die weitgehend selbsterklärend sind. Auf Kärtchen ausgedruckt, werden sie von den Jugendlichen ins Heft geklebt – etwa ein Bild für „Singen“ unter die Überschrift „Das kann ich“.
Wege aus der „erlernten Hilflosigkeit"
Im Rahmen des aktuellen Forschungsprojekts TIT – wie das Vorgängerprojekt finanziert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) – erweiterten und aktualisierten Erdélyi, Thümmel und ihr Team auf der Basis dieser Vorstudien die OLBoT für Jugendliche ab der 10. Klasse grundlegend. Sie besteht nun aus Übergangsprotokoll und bildbasierten Kommunikationstafeln sowie aus „Bobbie“ – einem „Berufsorientierungsbuch für Bildungseinrichtungen“. Es ist aus den früheren Bausteinen hervorgegangen, die überarbeitet wurden, enthält aber zusätzlich Bausteine zu Praktika und zur Festlegung von Zielen. Schülerinnen und Schüler können somit beispielsweise ihren Traumberuf darstellen oder Wünsche äußern, was sie in Zukunft noch lernen möchten.
Das sei allerdings erst der zweite Schritt, denn die Jugendlichen sind sich ihrer eigenen Wünsche und Träume oft nicht bewusst, so Erdélyi. Sie spricht von „erlernter Hilflosigkeit“: „Junge Menschen entwickeln erst gar nicht eigene Ziele, wenn sie es gewohnt sind, dass andere über sie bestimmen.“ Die Wissenschaftlerinnen haben daher für ausgewählte Berufe Informationsseiten ergänzt, auf denen die Jugendlichen mehr über typische Tätigkeiten erfahren und einschätzen, inwiefern diese zu ihnen passen.
„Bobbie“ im Praxistest
Schon in einer frühen Entwicklungsphase suchten Erdélyi, Thümmel und ihr Team den engen Austausch mit Lehrkräften einer Förderschule, die das Material für sie erprobten und ihre Erfahrungen zurückmeldeten. Das wollen sie auch weiterhin beherzigen. Die eigentliche Hürde bei der Entwicklung neuer Arbeitsmaterialien stellt nämlich der Übergang von der Entwicklung zur Praxis dar: „Eine für unsere Arbeit richtungsweisende Studie aus dem Jahr 1997 belegt, dass etwa 75 Prozent der Innovationen, die in der Forschung entwickelt werden, am Ende in Schulen nicht zur Anwendung kommen. Das wollen wir bei ‚Bobbie’ unbedingt verhindern“, so Erdélyi. Gemeinsam mit ihrem Team möchte sie das Material daher landesweit an 50 Schulen mit etwa 120 Lehrkräften testen.
Das Versuchsdesign sieht drei Gruppen vor: Einige Lehrerinnen und Lehrer erhalten ausschließlich „Bobbie“ mit Erläuterungen und Ideen zur Unterrichtsgestaltung. Eine zweite Gruppe wird zusätzlich über ein Onlineportal unterstützt: Hier können sich die Lehrenden Tutorials anschauen und sich mit anderen Lehrkräften austauschen. Die Lehrerinnen und Lehrer in der dritten Gruppe werden zudem von den Wissenschaftlern individuell begleitet. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen schließlich helfen, die Materialien für den regulären Einsatz in den Schulen zu optimieren und vor allem wirksame Strategien für eine Implementierung zu identifizieren.
Mit der App zum passenden Beruf
Auch bei STABIL – finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung – geht es darum, Materialien zur beruflichen Entscheidungsfindung zu entwickeln. Gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft nimmt Erdélyi junge Erwachsene in den Blick, die sich in der Endphase der Schulzeit befinden oder in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten und weitere berufliche Schritte planen wollen. Der Fokus liegt hier also auf einer späteren Phase im Prozess der Berufsorientierung und -bildung, wobei vor allem digitale Arbeitsmaterialien entwickelt werden sollen.
Oldenburger Software-Unternehmen arbeiten daher mit Erdélyi und ihrem Oldenburger Kollegen Rudolf Schröder, Professor für Ökonomische Bildung mit dem Schwerpunkt Berufsorientierung, an drei miteinander verbundenen Apps mit verschiedenen Schwerpunkten. Mittels dieser soll es möglich werden, dass Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam mit betreuenden Personen auf verständliche Weise Fragen zu berufsrelevanten Eigenschaften und Fähigkeiten sowie zu persönlichen Wünschen beantworten. Sie dienen anschließend auch dazu, eine passende Berufsausbildung zu finden.
Kommunikationsmittel kombinieren
Um einen geeigneten Fragenkatalog zu entwickeln, analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Erdélyi Kompetenzerhebungsverfahren und Curricula, das Team von Schröder die Ausbildungspläne für Menschen mit geistiger Behinderung. Sie arbeiteten unter anderem heraus, welche Eigenschaften und Kompetenzen bei einzelnen Berufen besonders gefragt sind. Zu diesen formulierten sie einfache Aussagen – etwa „Ich kann Telefongespräche annehmen“ oder „Ich bin sehr ordentlich“ – zusammen mit wenigen, einfachen Antwortmöglichkeiten. Fragen zu Kernkompetenzen, die in besonders vielen Berufen benötigt werden, stellten sie an den Anfang des Fragenkatalogs. Denn die App soll auch dann aussagekräftige Teilergebnisse liefern, wenn es die Jugendlichen nicht schaffen, alle Fragen zu beantworten.
Erste Tests verliefen vielversprechend: Viele Jugendliche arbeiteten hochmotiviert und konzentriert mit einzelnen App-Bausteinen und waren in der Lage, den Fragenkatalog selbstständig zu bearbeiten, freut sich Erdélyi. Das liege auch daran, dass sie verschiedene Kommunikationsmittel kombinieren: „Jede Aussage ist schriftlich in einfacher Sprache verfügbar und kann von der App vorgelesen werden.“ Zusätzlich erscheint ein zur Frage passendes Symbolbild. Am Ende erhalten die jungen Erwachsenen Feedback zu ihrer Selbsteinschätzung.
Erdélyi und Kollegen planen, die Apps 2021 weiter in Werkstätten und Schulen zu testen, soweit dies unter den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie möglich ist. Dabei möchten sie Eltern, Lehrkräfte und Berufsbilder der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einbeziehen: Auch sie sollen die von ihnen betreuten jungen Erwachsenen mit der App einschätzen – anschließend können die verschiedenen Ergebnisse im Gespräch verglichen werden. „Wichtig ist dabei, diese erst einmal nebeneinander stehen zu lassen und die Einschätzungen der Jugendlichen ernst zu nehmen“, betont Erdélyi. Hier gehe es im Kleinen darum, wofür die Projekte auch als Ganzes stehen: die Stimme der Jugendlichen zu hören.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins EINBLICKE.