Vita

Prof. Dr. Dagmar Freist erforscht und lehrt seit 2004 an der Universität Oldenburg die Geschichte der Frühen Neuzeit. Sie studierte und promovierte an der University of Cambridge und war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut (DHI) London. 2003 habilitierte sie sich an der Universität Osnabrück. Freist ist unter anderem Mitbegründerin und stellvertretende Sprecherin des Oldenburger Graduiertenkollegs "Praktiken der Subjektivierung", derzeitige Dekanin der Fakultät IV Human- und Gesellschaftswissenschaften sowie Beiratsvorsitzende des DHI London. Zu Schwerpunkten ihrer Forschung gehören politische Kultur und Öffentlichkeit, religiöse Pluralisierung, Migration und Globalisierung.

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Seit 2018 ist das „Prize Papers“-Projekt Teil des Akademienprogramms der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Gefördert von Bund und Land, gehört es zur Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

"Prize Papers"-Projekt (engl.)

Materialität der "Prize Papers" (engl.)

Katalog: The National Archives, UK (engl.)

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Prof. Dr. Dagmar Freist

Institut für Geschichte

  • Das Erschließen der Archivbestände fördert immer wieder Überraschendes zutage: Blick in eine Box mit Briefstapeln aus Postsäcken des Schiffes La Perla, das einst vor den Azoren gekapert wurde. Foto: Prize Papers Projekt, Maria Cardamone (TNA, HCA 30/311) © Images reproduced by permission of The National Archives, London, England

  • "Unser Wissen steht nicht unbedingt in Frage, aber es wird deutlich komplexer", sagt die wissenschaftliche Leiterin des Projekts, Dagmar Freist. Foto: Daniel Schmidt / Universität Oldenburg

Ungehörte Stimmen aus vergangenen Zeiten

Hunderttausende Dokumente aus der Zeit ab 1650, lange vergessen und vielfach unsortiert, beschäftigen das Team des Akademienprojekts „Prize Papers“. Leiterin Dagmar Freist im Interview über neue Einsichten in historische Komplexität.

Hunderttausende Dokumente aus der Zeit ab 1650, lange vergessen und vielfach unsortiert, beschäftigen das Team des Akademienprojekts „Prize Papers“. Die Oldenburger Historikerin und wissenschaftliche Leiterin Dagmar Freist im Interview über neue Einsichten in historische Komplexität.

  

Nicht erst seit dem offiziellen Projektbeginn 2018, sondern schon seit fast einem Jahrzehnt beschäftigen Sie sich mit den Prize Papers. Kommt beim Erschließen dieser Bestände für Sie immer noch Überraschendes zutage?

DAGMAR FREIST: Auf jeden Fall! Das liegt daran, dass der Bestand zahlenmäßig und inhaltlich sehr umfangreich ist. Wir sprechen nicht nur von rund 160.000 Briefen, sondern von insgesamt fast 90 verschiedenen Typen von Dokumenten die mit den Briefen zusammen in mehr als 4.000 Kisten lagern. Da gibt es je nach Dokument, Kontext, Zeit, Ort und involvierten Akteuren jedes Mal andere historische Konstellationen, die uns neue Einblicke bescheren etwa in Migrations-, Krankheitserfahrungen oder Sklaverei im 17. und 18. sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

90 verschiedene Dokumententypen – das erscheint eine Menge. Können Sie neben den häufig erwähnten Briefen ein paar Beispiele nennen?

FREIST: Die Briefe sind in der Tat das Bekannteste – weniger bekannt sind zum Beispiel die Vorläufer der heutigen Impfnachweise, sogenannte Gesundheitszertifikate für Reisende. Ein damaliges Instrument der Pandemiekontrolle: Wenn ein Schiff einen Hafen ansteuerte, musste die Besatzung einen Nachweis vorlegen, dass keine Infektionskrankheiten an Bord waren. Daneben enthalten die Prisenpapiere unterschiedliche Dokumente aus dem Gerichtskontext: Ursprung dieser Archivbestände in den Londoner Nationalarchiven sind ja die Prozesse um Schiffskaperungen zwischen 1652 und 1815, die in Kriegszeiten bei feindlichen Schiffen rechtmäßig und am Admiralitätsgerichtshof überprüfbar waren. Zu den Dokumenten zählen etwa Berufungsschriften, wenn ein Händler mit dem Konfiszieren der eigenen Ware beim Kapern eines Schiffes nicht einverstanden war und für sich Neutralität geltend machte. Aber es finden sich beispielsweise auch Warenlisten als Teil des damaligen Beweismaterials. Wir haben viele Dokumente selber erst klassifizieren müssen, nicht alle Typen sind uns heute unbedingt vertraut, zumal sie in unterschiedlichen Sprachen verfasst sind.

Sie bezeichnen die Prize Papers gerne als „großen Schatz“. In welcher Hinsicht dürften sie unser Bild von der Frühen Neuzeit verändern?

FREIST: Aus meiner Sicht ermöglichen sie es uns, die Perspektive zu ändern. Denn die großen Umwälzungen der europäischen Expansion – Kolonialismus, aber auch Armutsmigration – bilden sich hier aus einem alltäglichen Blickwinkel ab. Dieser bezieht soziale Gruppen ein, von denen wir normalerweise keine Zeugnisse haben. So steht unser Wissen nicht unbedingt in Frage, aber es wird deutlich komplexer. Traditionell nähern wir uns dieser Expansion in der Regel aus Sicht der politischen Ebene oder der Verwaltung, dazu gibt es hier und da Reise- und Missionarsberichte, die in Archiven überliefert und entsprechend sortiert sind. Im Unterschied dazu bieten die Prize Papers Material über die alltäglichen Auswirkungen der Expansion – Material, das nicht deswegen aufgehoben wurde, weil ein Archiv es für bewahrenswert gehalten hätte, und das zusätzliche Stimmen zu Wort kommen lässt.  

Eine völlig zufällige Überlieferung.

FREIST: Ja, diese zeigt, dass diese Epoche nicht allein aus einer nationalhistorischen Perspektive zu verstehen ist – also mit einem Blick auf die portugiesische oder spanische, französische, englische oder niederländische Kolonialgeschichte. Vielmehr sehen wir, dass quer zu diesen nationalen Zugehörigkeiten Menschen aus unterschiedlichsten Beweggründen Teil des damaligen Geschehens waren. Dies waren keine Herrschaftsträger oder Teil der Verwaltung, sondern Handeltreibende oder Menschen, die aufgrund von Armut in die Neue Welt zogen und die sich aber in irgendeiner Form zu den damaligen sozialen und obrigkeitlichen Gefügen verhalten mussten.

Die Briefe zeigen uns also neue Ebenen dieses komplexen Expansionsprozesses.

FREIST: Sie zeigen uns diese Komplexität – und was es bedeutet hat, aus eigenen Stücken in diese Regionen zu migrieren. Zudem sehen wir, dass auf Alltagsebene auch Gesellschaften Teil dieser Expansion waren, die zumindest damals nicht zu den Kolonialmächten gehörten – wie zum Beispiel Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ob durch deutsche Händler, Seeleute, Militärärzte oder zum Beispiel, ganz entscheidend, durch Missionare. Daraus folgt, dass diese Expansion und Kolonialgeschichte nicht nur zur Geschichte der damaligen Kolonialmächte gehört, sondern auch zu einem Teil unseres eigenen kulturellen Gedächtnisses und zur Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit.

Da fällt mir spontan der Begriff der Globalisierung ein. Sind das deren Anfänge?

FREIST: Die Forschung spricht von Protoglobalisierung und nimmt in der Tat die europäische Expansion als Beispiel. Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass die europäische Expansion als Beginn einer Globalisierung sehr eurozentrisch gedacht ist. Außerhalb Europas, etwa in Regionen in und um den Indischen Ozean, waren die unterschiedlichen Ethnien und Herkunftsorte über Handel und Migration schon seit dem 9. Jahrhundert verflochten. Die Idee der Globalisierung ist in der europäischen Wissenschaft vor allem auf das 19., 20. und 21. Jahrhundert bezogen und sehr stark auf die heutigen, westlichen Global Players. Dass unterhalb dieser Ebene sehr viel früher Begegnungen, aber auch Konfrontationen stattfanden, haben Historikerinnen und Historiker lange nicht dem Begriff der Globalisierung zugeordnet. Die Prize Papers tragen dazu bei, dass wir ein noch differenzierteres Bild erhalten.

Von den schätzungsweise 160.000 Briefen im Bestand haben viele ihre Adressaten nie erreicht. Können Sie aus denjenigen, die Sie bislang lesen konnten, einen herausgreifen, dessen Lektüre Sie besonders bewegt hat?

FREIST: Mir fällt zum Beispiel ein Brief einer Herrnhuter-Missionarin, Catharina Borck, ein: Als neu Angekommene in Surinam beschreibt sie 1795, wie sie in die dortige Plantagengesellschaft eingeführt wird. Sie schildert, wie versklavte Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen von der afrikanischen Westküste in die Karibik verschleppt wurden, in ihrem alltäglichen Umfeld eingesetzt werden, auch in dem kleinen Laden, den sie mit ihrem Mann betreibt. Sie beschreibt, wie sie sprechen und welche Rituale sie pflegen, zum Beispiel, wenn jemand gestorben ist. Eine Szene, in der es um einen der ersten Plantagenbesuche von Catharina Borck geht, ist mir sehr in Erinnerung geblieben: Der Plantagenbesitzer bereitet ein ganz besonderes Schauspiel, wie er sagt, vor, dessentwegen die Gäste unbedingt noch bleiben sollen – als es dunkel wird, werden die versklavten Menschen in den Hof geführt und müssen vor den Augen aller die Kaffeebohnen zerstampfen.

Und das sollte der Unterhaltung der Gäste dienen.

FREIST: Die Beschreibung dieser Szene aus den Augen der Missionarin ist aus heutiger Sicht so irritierend, weil sie die unmissverständliche Unterdrückung und Sklavenarbeit, die quasi wie auf einer Theaterbühne Schaulustigen dargeboten werden, nicht zu erfassen scheint. Stattdessen vergleicht sie die rhythmischen Bewegungen des Kaffeestampfens mit dem Exerzieren von Soldaten in Europa. Dabei haben die Herrnhuter Missionare ein ambivalentes Verhältnis zur Sklaverei. Dieses Beispiel zeigt, wie herausfordernd es ist, diese Art der Überlieferung zu kontextualisieren und mit anderen Äußerungen zu vergleichen, um so ein Bild der alltäglichen Wahrnehmung und Praxis von Sklaverei durch Europäer unterschiedlichster Herkunft und Bildung zu erhalten. Ergänzt werden muss diese Perspektive durch die Sichtweisen, Handlungsmöglichkeiten und Erzählungen der Menschen, die versklavt wurden. Hier hat die Wissenschaft noch sehr viel Nachholbedarf.

Nun sieht Ihr Plan vor, diese Vielzahl von Dokumenten über die 20-jährige Laufzeit zu erschließen und zu digitalisieren, internationale Gutachter haben das Projekt jüngst positiv evaluiert. Wie geht das Team bei einem Bestand dieser Größe vor: Kiste für Kiste, oder Seekrieg für Seekrieg – es waren ja immerhin 14?

FREIST: In der Tat gehen wir in einer Modulstruktur vor, Seekrieg per Seekrieg, und entscheiden pragmatisch: Wie groß ist der Umfang? Wie sind die sprachlichen Anforderungen? Wer aus dem Team könnte die Aufgabe am besten übernehmen? Es ist ein komplexer Entscheidungsprozess, welches Modul wir als nächstes bearbeiten – immer mit dem Ziel, die Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Dieser Herausforderung stellen wir uns in enger Absprache mit den „National Archives“, die vorsortieren.

Was ist der nächste Meilenstein?

FREIST: Unser Datenportal. Das ist seit Ende 2020 in der Testphase, das Projektteam nutzt es schon intern. Das Portal wird Ende September online gehen, so dass alle Interessierten eine erste Auswahl der bis zu dem Zeitpunkt erfassten Dokumente recherchieren können. Eine zweite Version des Datenportals, die wir gerade mit unseren IT-Kooperationspartnern der Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbunds entwickeln, wird dann zusätzlich Beziehungen der Dokumente, der Artefakte und betreffenden Personen untereinander abbilden – eine nochmals komplexere Datenstruktur. Dabei bleibt es uns wichtig, mit unserer Herangehensweise den Zugang zum Material möglichst wenig einzuschränken. Neben bestimmten Sichtweisen wird deshalb stets eine freie Suche möglich bleiben. Offen bleiben für Überraschungen – das ist ungemein wichtig im Erkenntnisprozess.

Interview: Deike Stolz

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