Durch die neue Internet-Anwendung ChatGPT ist das Thema Künstliche Intelligenz in den Medien ein Dauerbrenner. Viele Menschen sind von den Möglichkeiten begeistert, die diese Plattform bietet. So gibt das Programm intelligente Antworten auf alle erdenklichen Fragen und verfasst lange Sachtexte. Es gibt aber auch viele kritische Stimmen. Im Interview ordnet der Informatiker Oliver Kramer ein, welche Chancen die neue Technologie bietet und inwieweit sie die Digitalisierung voranbringen kann.
Herr Kramer, steht der Künstlichen Intelligenz, der KI, mit ChatGPT eine Revolution bevor?
Die Technologie ist sehr interessant, weil sie die KI schneller und leistungsfähiger macht. Sie ist der neueste von mehreren Entwicklungssprüngen, den die KI in den vergangenen 20 Jahren gemacht hat. Ich bin mir sicher, dass sie unser Leben und unseren Berufsalltag verändern wird. Von einer Revolution würde ich aber nicht sprechen.
Eine Frage vorweg: Was genau verstehen Experten eigentlich unter KI?
Bei der KI handelt es sich um Computer-Programme, die lernfähig sind. Sie werden zum Beispiel in der Bilderkennung eingesetzt. Man trainiert sie mit großen Datenmengen, sodass sie lernen, bestimmte Objekte zu erkennen – zum Beispiel Gesichter. Man spricht auch vom maschinellen Lernen. ChatGPT ist ein sogenanntes Large Language Model, ein großes Sprachmodell, das mit Millionen von Texten zu allen möglichen Themen gefüttert wurde. Damit enthält es einen großen Teil des Weltwissens.
Und was macht es damit?
ChatGPT und andere KI-Verfahren tun im Grunde nichts anderes, als gelernte Daten auf andere Daten abbilden. Ein simples Beispiel wäre, einen deutschen Text ins Französische zu übertragen. Wir Informatiker nennen das, „Sequenz auf Sequenz abzubilden“ – in diesem Fall eine Sequenz deutscher Worte auf eine Sequenz französischer Worte. Eine solche Übersetzung ist aber noch nicht besonders intelligent. Bei ChatGPT kommt ein ganz neuer Aspekt hinzu, die sogenannte „Aufmerksamkeit“ oder „Selbstaufmerksamkeit“ – ein Konzept, das Informatiker im Jahr 2017 in dem bahnbrechenden Fachartikel „Attention is all you need“ vorgestellt haben. Bei diesem Ansatz wird eine KI in die Lage versetzt, selbst zu bewerten, welcher Teil einer Eingabe für die gewünschte Antwort wichtig ist und welcher nicht. Die KI verfügt damit erstmals über Aufmerksamkeit und kann über längere Eingaben den Kontext mitbetrachten. Das ähnelt sehr den Informationsverarbeitungsprozessen des Menschen. Auch wir können dank unserer Aufmerksamkeit abwägen, welche Informationen wichtig sind, ehe wir den nächsten Schritt machen.
Haben Sie ein Beispiel?
Man kann mit ChatGPT zum Beispiel zum Thema New York chatten. Stellt man dann eine Frage wie „Wo ist der Busbahnhof?“, berücksichtigt ChatGPT den Kontext des bisherigen Gesprächs und nennt die Lage des Busbahnhofs von New York – und nicht etwa einer anderen Stadt. Ein einfacher Sprachassistent ist dazu nicht in der Lage.
Haben Sie selbst schon Erfahrungen mit dieser neuen Art von Künstlicher Intelligenz gemacht?
Ja, wir haben diese neuen „Attention“-Verfahren in einem Projekt genutzt, um Wirkstoffe gegen Coronaviren zu entwickeln. Bei diesem Projekt ging es darum, ein Enzym zu blockieren, das bei der Vermehrung der Viren bestimmte Proteine zuschneidet, eine Protease. Ziel war es, ein neues Wirkstoffmolekül zu finden, das den Schneidemechanismus der Protease lahmlegt. Wir haben dazu verschiedene KI-Methoden angewendet. Zum einen sogenannte evolutionäre Algorithmen, die schon länger etabliert sind. Wir haben sie genutzt, um Moleküle aus Chemiedatenbanken in einem evolutionären Prozess so zu verändern, dass sie an die Protease andocken und diese deaktivieren. Zum anderen haben wir dann das neue KI-Verfahren eingesetzt, um neue Molekülvorschläge in die Optimierung zu integrieren. In einer Art Optimierungsschleife, einem Loop, hat es einzelne Moleküle immer weiter verbessert. Zum Teil haben wir diese Optimierung auf Großrechnern laufen lassen. Damit dauert es zwei Tage, bis ein Molekül berechnet ist.
Haben Sie vielversprechende Corona-Wirkstoffe gefunden?
Das haben wir. Dabei mussten wir mehrere Dinge beachten. Nicht nur, dass das Molekül die Protease hemmt, sondern auch, dass es gut verträglich ist und sich im Labor mit überschaubarem Aufwand herstellen lässt. Ein so komplexer Wirkstoff muss Atom für Atom synthetisiert werden. Es dauert bis zu einem halben Jahr, bis ein solcher Produktionsprozess steht. Je einfacher das Wirkstoffmolekül aufgebaut ist, desto schneller geht es. Das Beispiel zeigt, wie vielfältig nutzbar die KI heute ist. In der Oldenburger Informatik gibt es noch viele andere Arbeitsgruppen, die KI einsetzen – Astrid Nieße optimiert damit zum Beispiel den Betrieb von Ladesäulen für Elektroautos und mein Kollege Daniel Sonntag befasst sich damit, die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter zu erleichtern. Dabei kommen ganz verschiedene KI-Technologien zum Einsatz.
Systeme wie ChatGPT und das „Aufmerksamkeitsprinzip“ scheinen derzeit aber das herausragende Thema zu sein.
Natürlich. Es ermöglicht ja ganz neue Anwendungen. Das zeigt zum Beispiel der einarmige Industrieroboter PaLM-E, der von Google und der Technischen Universität Berlin entwickelt wurde. Wie ChatGPT ist der Roboter mit einem Large Language Model ausgestattet. Damit kann er auf das Weltwissen zurückgreifen, das in dem Sprachmodell steckt. Normalerweise muss man Robotern Schritt für Schritt zeigen, was sie zu tun haben. PaLM-E hingegen nutzt sein Wissen und Reflexionsvermögen, um kreativ vorzugehen. Er öffnet zum Beispiel Schubladen, um nach Werkzeugen zu suchen, weil er dank des Weltwissens weiß, dass in Schubladen oftmals Werkzeuge aufbewahrt werden.
Bei aller Begeisterung wird mit Blick auf ChatGPT auch vor den Gefahren der KI gewarnt. Wie gefährlich ist sie?
Kritiker sagen häufig, dass wir Informatiker gar nicht mehr erklären oder überblicken können, was Algorithmen eigentlich machen, dass sich die KI quasi verselbstständigt. Das ist insofern richtig, als KI-Verfahren wie zum Beispiel Neuronale Netze tatsächlich eigenständig arbeiten. Das ist ja der Sinn der Sache. Sie können viel komplexere Aufgaben lösen als wir Menschen. Ein Mensch kann vielleicht drei oder vier verschiedene Parameter miteinander verknüpfen, danach verliert er den Überblick. Ein neuronales Netz kann Dutzende Parameter kombinieren und Zusammenhänge erkennen, die wir Menschen niemals entdecken würden. Das heißt aber nicht, dass wir die Kontrolle verlieren. Wir trainieren die KI ja mit bestimmten Informationen, um bestimmte Probleme zu lösen. Und in der Regel wird die KI erst dann im Alltag eingesetzt, wenn sie ausreichend geprüft wurde – etwa beim automatisierten Fahren.
In Sachen KI-Risiken können Sie also Entwarnung geben?
Natürlich gibt es auch Risiken. Wenn Systeme wie ChatGPT in der Lage sind, ganze Aufsätze zu schreiben, dann muss ich mich als Hochschullehrer fragen, wie ich sicherstellen kann, dass meine Studentinnen und Studenten nicht mogeln. Mit ZeroGPT gibt es seit einigen Monaten eine Software, die Texte daraufhin prüft, ob sie von KI geschrieben worden sind. Aber auch solche Systeme kann man austricksen. Systeme wie ChatGPT bringen ganz klar Herausforderungen mit sich. Es ist gut möglich, dass Arbeitsplätze in Service-Centern verloren gehen, weil ChatGPT viele Fragen sehr kreativ beantworten kann. Auch werden solche Systeme manche Textarbeiten übernehmen können – etwa in der Werbebranche. Das kann aber auch von Vorteil sein, wenn Arbeitsabläufe dadurch effizienter werden. Inzwischen entstehen bereits ganz neue Jobs wie zum Beispiel der des „Prompters“: Dabei geht es darum, Systeme wie ChatGPT mit besonders treffenden und starken Stichworten zu füttern, damit diese Systeme gehaltvollere Texte liefern. Im Grunde führen wir dieselbe Diskussion wie immer, wenn eine neue KI-Technologie auf den Markt kommt. Und auch die Antwort ist stets dieselbe: Eine neue Technologie kann Nachteile haben, aber eben auch große Potenziale.
Welche Potenziale sehen Sie?
Für mich ist es sehr interessant, Large Language Models, wie sie ChatGPT zugrunde liegen, mit anderen Datensätzen zu kombinieren – mit Bilddaten und Videos oder Informationen über Krankheiten oder chemische Moleküle. Vielleicht könnte man künftig eine Frage stellen wie: „Wie sieht das perfekte Molekül aus, um die Protease im Coronavirus zu hemmen?“ Das könnte viel Zeit sparen. In einem neuen Projekt kombinieren wir ein neuronales Netz mit dem neuen Aufmerksamkeitsmechanismus und mit den Daten von Hunderten von Windanlagen, um die kurzfristige Wettervorhersage zu verbessern. Wir möchten aus den aktuellen Daten zur Stromproduktion der vielen Anlagen schließen, welche Stromausbeute in der nächsten Stunde an einem bestimmten Windpark zu erwarten ist. Solche Kurzfristvorhersagen werden mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien für den Betrieb der Stromnetze immer wichtiger. Auf diese Weise können kurzfristige Vorhersagen stark verbessert werden.
Die Digitalisierung der Industrie und der ganzen Gesellschaft steht seit Jahren in Deutschland und Europa weit oben auf der politischen Agenda. Wie stark kann die neue KI die Digitalisierung voranbringen?
Das sind für mich zwei getrennte Welten. Bei der Digitalisierung denke ich an Behörden oder Verwaltungen, die heute noch kaum digitalisiert sind. Das beginnt damit, den Schriftverkehr zu digitalisieren – etwa in Form von PDF-Dokumenten. Auch die elektronische Patientenakte, die 2024 flächendeckend eingeführt werden soll, ist ein Schritt in Richtung Digitalisierung. Sie wird den Austausch von Daten zwischen Ärzten, Kliniken und Patienten sehr erleichtern. Bislang scheitern viele Digitalisierungsaktivitäten aber an Sicherheitsbedenken. Datensicherheit ist wichtig, keine Frage, aber vielfach eine Hürde bei der Digitalisierung. Von Künstlicher Intelligenz ist man da noch weit entfernt. Gerade bei der elektronischen Patientenakte aber könnte die KI sehr hilfreich sein. So könnten KI-Programme Patientendaten analysieren und darin nach Gesundheitsrisiken oder möglichen Erkrankungen suchen, die sonst unentdeckt blieben.
Interview: Tim Schröder
Der Artikel ist zuerst im Forschungsmagazin EINBLICKE erschienen.