Geschichte lässt sich nicht nur nachlesen, sondern auch hören und fühlen. Gemeinsam
mit ihrer Arbeitsgruppe erforscht die Musikwissenschaftlerin Anna Langenbruch, wie Musikhistorisches auf der Bühne dargestellt wird.
Wolfgang Amadeus Mozart als Rockstar der Wiener Klassik: Dieses Bild hat sich in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. Der Ursprung von Mozarts Superstar-Image ist allerdings noch relativ neu – er liegt vor allem in Peter Shaffers Theaterstück „Amadeus“ und dem gleichnamigen Film von Miloš Forman aus dem Jahr 1984. „Dies verdeutlicht, welchen Einfluss Bühnenproduktionen auf unser Bild historischer Figuren haben können“, sagt Dr. Anna Langenbruch.
Es ist diese ungewöhnliche Art von Geschichtsschreibung, die Langenbruch und ihre Nachwuchsgruppe „Musikgeschichte auf der Bühne“ am Institut für Musik untersuchen. Sie erforschen dabei ebenso Schauspiele mit Musik wie Musicals und Opern, die Musikerinnen, Musiker oder musikhistorische Ereignisse behandeln. Etwa „Les trois âges de l’opéra“, das sich bereits im Jahr 1778 mit der Geschichte der französischen Oper beschäftigt, oder ganz aktuelle Produktionen wie Marina Abramovićs „7 Deaths of Maria Callas“ (2020).
Weltweit einzigartige Datenbank
Das Team um Langenbruch ist das erste, das das Musikgeschichtstheater umfassend wissenschaftlich in den Blick nimmt. Ziel ist, es als ein eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung zu untersuchen. Denn Musikgeschichte auf der Bühne funktioniert anders als Musikgeschichte in Buchform. „Oft basiert unser Wissen über Persönlichkeiten oder Ereignisse der Musikgeschichte auf zeitgenössischen Darstellungen wie im Film oder auf der Bühne. Geschichtsschreibung wird dann auch zu etwas, was man hören, sehen und fühlen kann“, sagt Langenbruch. Ein solches „Klangbild“ sei natürlich gerade bezogen auf Musikgeschichte sehr spannend.
Eine Basis ihrer Forschung ist eine umfangreiche Datenbank – die einzige weltweit, die Musikgeschichtstheaterstücke des 18. bis 21. Jahrhunderts sammelt und für weitere Forschungen erschließt. Die Grundlage hierfür legte Langenbruch bereits als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musik, bevor sie 2016 in das renommierte Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen wurde. Mit dieser Förderung baute sie anschließend ihre derzeit siebenköpfige Forschungsgruppe auf.
Seitdem haben sie und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter fleißig Daten recherchiert – mittlerweile sind es knapp 1.000 Stücke, über die aus Archiven, Bibliotheken und digitalen Sammlungen Informationen zusammengetragen werden konnten. Sie geben Auskunft über Themen, Autoren, Genres, Jahre und Orte der Uraufführungen sowie die dazugehörigen Quellen. Um an dieses Wissen zu gelangen, ist oft aufwendige Detektivarbeit nötig: Denn Partituren und andere Originalquellen sind teils nur schwer auffindbar.
Bühnendarstellung historischer Personen verändert sich
Anhand der Daten können die Forscher zum Beispiel nachvollziehen, ob und wie Musikerinnen und Musiker kanonisiert, also in die Liste „großer Künstler“ aufgenommen und heroisiert wurden. Dazu habe das Musikgeschichtstheater durchaus die Kraft, sagt Daniel Samaga, Doktorand in Langenbruchs Forschungsgruppe. Der Musikhistoriker beschäftigt sich mit sogenannten Authentisierungsstrategien in Stücken über Mozart – er untersucht, auf welche Art dem Zuschauer historische Glaubwürdigkeit vermittelt wird. Seine Analyse der Stücke zeigt, wie sehr sich die Bühnendarstellung einer historischen Person im Laufe der Zeit verändern kann. „Daran wird der gesellschaftliche Einfluss auf diese Form der Geschichtsschreibung deutlich“, betont Samaga.
Wird Mozart im 19. Jahrhundert noch als introvertierter Künstler dargestellt, porträtiert ihn eine musikalische Komödie von 1925 bereits als Verführer von Frauen unterschiedlichen Standes. Mit Sylvester Levays Musical „Mozart!“ von 1999 ist der Wandel zum Rebellen dann perfekt: Mozart widersetzt sich seinem kontrollierenden Vater und versucht, dem Korsett der Zeit zu entfliehen. Das Musical verwendet zeitgenössische Rock- und Popmusik für die eigens komponierten Songs, während Mozarts Musik nur in kurzen Toneinspielungen erklingt.
Ein weiterer Schwerpunkt der Nachwuchsgruppe ist, zeitgenössische Produktionen mithilfe ethnografischer Methoden zu untersuchen. Im Fokus steht dabei zum Beispiel, wie bestimmte Rollenbilder – etwa Marlene Dietrich als Femme fatale – entwickelt werden. Dazu beobachten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Proben und Aufführungen und führen Interviews mit Regisseuren und Schauspielerinnen.
„Auf diese Weise wird Geschichtsschreibung vielstimmig.“
Eine Besonderheit, die für alle Projekte der Forschergruppe gilt: Am Musikgeschichtstheater lässt sich untersuchen, wie Menschen Geschichte interpretieren und wie sie darüber streiten. Denn zu den Sichtweisen der Beteiligten auf und hinter der Bühne gesellen sich jene von Zuschauern, Kritikerinnen und Kritikern. Auch sie setzen sich mit den historischen Inhalten auseinander und berichtigen, ergänzen oder kommentieren entsprechend, so ein Studienergebnis Langenbruchs. „Auf diese Weise wird Geschichtsschreibung vielstimmig“, sagt die Forscherin. Und auch die Musik selbst werde zum Träger von Geschichte: „Kompositionen werden noch Jahrhunderte nach ihrem Entstehen aufgeführt und dabei für veränderte Hörgewohnheiten neu arrangiert."
Damit habe die kreative, künstlerische Herangehensweise des Musikgeschichtstheaters einen ebenso starken Einfluss auf die Geschichtsschreibung wie andere Formen – und diese seien auch möglichst alle zu berücksichtigen, so Langenbruch weiter. „Denn aus unserem Verhältnis zu Geschichte ‚stricken‘ wir einen Teil unseres Selbstbildes, es beeinflusst, wie wir die Welt sehen und darüber tauschen wir uns mit anderen Menschen aus. Das wirkt sich unmittelbar auf unser jetziges Leben aus.“