Als der erste Namensvorgänger des neuen britischen Königs ab 1625 den Thron innehatte, schien England aus Sicht von Zeitgenossen „auf den Kopf gestellt“ – auch Charles III. tritt in turbulenten Zeiten seine Regentschaft an. Historikerin Dagmar Freist im Interview über die dynastische Tradition des Königshauses, Parallelen und Unterschiede, über politische Kultur und starke Frauen.
Frau Freist, hätten Sie dem neuen britischen König Charles III. diesen Namen empfohlen oder ihm im Gegenteil geraten, als Staatsoberhaupt einen anderen Namen anzunehmen?
Ich vermute, Ihre Frage spielt darauf an, dass das Bild der beiden Namensvorgänger aus dem 17. Jahrhundert, der Könige Charles I. und Charles II., die beide jeweils etwa 25 Jahre lang den Thron innehatten, im kollektiven Gedächtnis heute eher negativ besetzt ist. Das würde ich differenzierter bewerten.
Inwiefern ist denn der Blick auf die Namensvorgänger – in diesem Fall Charles I. und II. – bedeutsam?
Grundsätzlich wird mit der Namensgebung an eine dynastische Tradition des Königshauses angeknüpft. Das ist im Fall von Charles die schottische Dynastie der Stuarts. Aus ihr gingen seit 1603 in Personalunion die Könige und Königinnen von England, Schottland, Wales und Nordirland hervor. Im Jahr 1714 wurde das königliche Haus Stuart allerdings von dem Haus Hannover abgelöst. Der Grund war das sogenannte Act of Settlement von 1701, in dem festgelegt worden war, dass aus religionspolitischen Gründen kein Katholik auf den Thron folgen durfte. Die nächste protestantische Thronfolgerin war eine Nichte von Charles I., Sophia von Hannover. Sie erlebte die Krönung nicht mehr, und ihr Sohn Georg folgte 1714 als George I. bis 1727 auf den Thron des Vereinigten Königreichs – der Namensvorgänger der heutigen Nummer zwei der Thronfolge.
Was kann der neue König Charles III. aus der Geschichte der Regentschaft von Charles I. und II. lernen?
Die politischen Bedingungen und konstitutionellen Handlungsspielräume der Könige im 17. und im 21. Jahrhundert sind natürlich völlig andere. Interessant ist aber, welchen politischen Herausforderungen sich die Monarchen jeweils gegenübersahen. Das 17. Jahrhundert in England wurde bereits von Zeitgenossen als eine Welt beschrieben, die auf den Kopf gestellt worden war, „The World turn‘d Upside Down“. Diese Wahrnehmung bezog sich auf sämtliche Lebensbereiche, begleitet von Hungersnöten, Pest, politisch-religiöser Radikalisierung, europäischen Kriegen und Verschwörungstheorien. Die entstehenden Print- und Bildmedien, hier vor allem Flugblätter und Lieder, verstärkten diese Bedrohungsszenarien oft reißerisch in Wort und Bild und wurden mündlich auf Plätzen und in Wirtshäusern weitergetragen. Melancholie wurde zu einer Volkskrankheit. Charles I. ignorierte oder unterschätzte diese Stimmung im Land. Und er nahm die schriftlich vorgetragenen Forderungen nach politischen Reformen hin zu einer stärkeren Einbindung des Parlaments in Entscheidungsprozesse nicht ernst.
So nahm seine Regentschaft kein gutes Ende…
Nach einem blutigen politisch und religiös aufgeladenen Bürgerkrieg zwischen, etwas vereinfacht gesprochen, König und Parlament, wurde Charles I. im Januar 1649 wegen Hochverrats hingerichtet. Charles II. war der königliche Hoffnungsträger für ein zerrissenes Land, als er nach mehr als einem Jahrzehnt aus dem Exil in das Vereinigte Königreich zurückkehrte und die Herrschaft des „Lord Protector“ Oliver Cromwell beendete. Er präsentierte sich als „König-mit-Parlament“, tolerant gegenüber religiösen Minderheiten und versöhnend gegenüber den Parteien des Bürgerkriegs. Er konnte sich allerdings in dem erbitterten Kampf um politische Hoheit zwischen Anhängern des Parlaments, die sich im entstehenden Parteiensystem als Whigs bezeichneten, und Befürworten eines mächtigen Monarchen, den Tories, am Ende nicht durchsetzen. Seine Regentschaft war geprägt von bürgerkriegsähnlichen Unruhen und einer aufgeheizten öffentlichen Meinung.
So eint den heutigen König Charles mit seinen Vorgängern, dass sie in turbulenten Zeiten den Thron bestiegen?
Ich möchte keine Parallele ziehen, aber die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, denen sich Großbritannien aktuell gegenübersieht, die Folgen des Brexits, eine mit Emotionen und Ängsten spielende Boulevardpresse, das Infragestellen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks BBC als einer demokratischen und unabhängigen Berichterstatterin, und die zunehmend spürbaren Auswirkungen der Klimaveränderungen, um nur einige Punkte zu nennen, stellen das Land vor immense Herausforderungen.
Sie haben sich ja schon in Ihrer Promotion mit der politischen Kultur während der Regentschaft Charles' I. befasst. Wie hat sich die Rolle des gekrönten Oberhaupts im britischen Staat seither verändert?
Anders als im 17. Jahrhundert ringen König und Parlament heute nicht mehr um die politische Oberhoheit im Staat, auch wenn die Krone weiter über Hoheitsrechte verfügt. In der Praxis folgt der Monarch den Entscheidungen des Parlaments. Allerdings leben viele der traditionsreichen Zeremonien weiter, die wir aktuell nach dem Tod Elisabeths II., den Vorbereitungen der Beisetzung und der Thronbesteigung Charles III. beobachten können. Ich finde es interessant, dass sich viele Medien derzeit für die Namensvorgänger Charles III. interessieren. Daneben lohnt ein Rückblick auf Elisabeth I., deren Regentschaft von 1558 bis 1603 währte, und Elisabeth II. – aus meiner Sicht unglaublich spannend. Beide Herrscherinnen wurden von den jeweiligen Zeitgenossen bereits als bedeutend wahrgenommen oder mit dem Titel „die Große“ belegt. Beide mussten sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt durchsetzen – und es ist ihnen gelungen.
Gibt es Aspekte, bei denen sich Charles in die Tradition seiner Namensvorgänger stellen könnte?
Im 21. Jahrhundert brauchen unsere demokratischen Gesellschaften, und hier spreche ich nicht nur für Großbritannien, keine Machtkonzentration in den Händen weniger, und keine national definierte Identität, was immer damit jeweils gemeint ist, um die komplexen Probleme unserer Zeit zu meistern. Im Gegenteil, es muss gelingen, eine politische Kultur der Empathie, der Menschenwürde und der Verantwortung um der Sache willen zu entwickeln, in Überwindung parteipolitischer und Karriere motivierter politischer Grabenkämpfe. Hier könnte der britische Monarch als Integrationsfigur, losgelöst von parteipolitischer Taktik, eine wichtige Rolle spielen.
Interview: Deike Stolz