Clara Willmann hat ein Stück regionaler Auswanderungsgeschichte erschlossen. In ihrer Abschlussarbeit deckt die Studentin auf, was jahrhundertealte Briefe über familiäre Verbundenheit verraten.
Klein und unscheinbar ist die Pappschachtel, die von 1985 bis vor wenigen Monaten in der Bibliothek der Universität von Kalifornien, Berkeley, stand. Ihn ziert lediglich die Aufschrift „Emigrant letters“. Weitere Hinweise auf ihren Inhalt gibt die Pappschachtel von außen nicht preis.
Für Clara Willmann war es ein spannender Augenblick, als sie die Scans der Briefe aus der unscheinbaren Box erhielt. Noch wusste sie nichts über deren Inhalt. Bekannt war lediglich, dass sie aus der Region rund um Cuxhaven stammen und nach Amerika geschickt wurden. Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit konnte die Studentin nun als erste den Geheimnissen der Briefe nachspüren – und aufdecken, wer sie schrieb, an wen sie gerichtet waren und was diese Menschen bewegte. Fünf Monate lang untersuchte sie die die Auswandererbriefe mit Blick auf die Beziehungsarbeit. „Ich habe mir angeschaut, wie Familien durch Briefe versucht haben, Kontakt zu halten, Nähe herzustellen und eine Familie zu bleiben“, erklärt Willmann, die Geschichte und Anglistik auf Lehramt studiert. Als Grundlage diente ihr die zufällig zusammengestellte Briefsammlung aus der Pappschachtel. Die Schriftstücke stammen aus den Jahren 1860 bis 1872. Erst in diesem Jahr fand der Karton den Weg an das Deutsche Historische Institut Washington (DHI). Hier fragte Dr. Lucas Haasis, Dozent am Institut für Geschichte und Betreuer von Willmanns Bachelorarbeit, nach Briefen, mit denen Willmann arbeiten konnte – so gelangten die Digitalisate nach Oldenburg. Im Projekt „Migrant Connections“ des DHI spüren die Beteiligten verschollene Briefbestände deutscher Auswanderer und der Daheimgebliebenen im 19. und 20. Jahrhundert auf, digitalisieren diese und stellen die Briefe samt Transkriptionen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Willmanns Untersuchungen leisten auch hier Pionierarbeit. Schon im März vergangenen Jahres durfte sie ihre ersten Forschungen im Rahmen eines Roundtables des DHI vor internationalem Publikum vorstellen.
Schreibschrift und verlorene Passagierlisten
In der Migrations- und Auswanderungsforschung gibt es noch große Lücken. Auch deshalb, weil Briefe erst in den letzten dreißig Jahren in den Fokus der Forschung gerückt sind: „Zuvor waren sie eher Beiwerk, aus denen zitiert wurde. Diese selbst als Forschungsgegenstand zu nutzen, ist noch relativ neu“, erklärt Willmann. Bei den Briefen aus der Schachtel handelt es sich fast ausschließlich um Schreiben an das Ehepaar John Dreyer und Anna Döscher, die in der Gegend um San Francisco in Kalifornien lebten; Antwortschreiben zurück in die deutsche Heimat liegen nicht vor. Willmann bekam so eine einmalige Gelegenheit für ihre Bachelorarbeit. „Viele Studien beschäftigen sich mit Briefen von ausgewanderten Menschen und auch mit beidseitiger Korrespondenz. Aber Untersuchungen, die sich ausschließlich mit den Schriftstücken aus der alten Heimat an ausgewanderte Menschen beschäftigen, die gab es bisher nur sehr wenig“, so die Studentin weiter.
Da zuvor niemand mit den Briefen gearbeitet hatte, musste Willmann zuerst viel Transkriptionsarbeit leisten. Insgesamt 28 Briefe las die Studentin, entzifferte die teils schwer lesbare Handschrift und transkribierte die Texte. Verfasst waren die Briefe in Kurrentschrift – einer deutschen Schreibschrift, die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts genutzt wurde. „Es war hilfreich, dass ich diese alte Schrift bereits lesen konnte“, erzählt die 24-Jährige. Zudem erleichterte es ihre Arbeit, dass die Briefe kaum durchgestrichene Stellen enthielten. „Die Menschen haben sich früher genauer überlegt, was sie schreiben“, sagt Willmann.
Wie Willmann herausfand, wurde nur die Hälfte der Briefe in der deutschen Heimat verfasst, der andere Teil in den USA. Sie stammen von Freunden oder Familienmitgliedern der Auswandererfamilien Döscher und Dreyer, die ebenfalls nach Amerika ausgewandert waren. „Nach dem Transkribieren stand ich vor dem Problem, dass ich die Namen und Personen nicht zuordnen konnte. Es war viel Recherche nötig“, sagt Willmann. Anfangs war das einzige verbindende Glied zwischen den Briefen für sie der Adressat. Daraufhin bezog sie auch andere Quellen in ihre Arbeit ein. Sie versuchte etwa in Kirchenbüchern, lokalen Archiven und dem Auswandererhaus in Bremerhaven, mehr über das Leben der beiden Familien zu erfahren. Durch diese Recherche und die Hilfe von Heimatforschern, konnte Willmann schließlich sogar Stammbäume der Familien anfertigen. Das größte Hindernis für ihre Arbeit war, dass die Passagierlisten der Auswanderer aus dem 19. Jahrhundert zerstört wurden und daher nicht als Quellen zur Verfügung standen.
Familiengeschichte bleibt in Erinnerung
Mit ihrer Detektivarbeit hat Willmann schließlich einiges herausgefunden. So sei deutlich geworden, dass die Menschen versuchten, den fehlenden persönlichen Kontakt schriftlich zu ersetzen. Dabei hing die Intensität der Beziehungsarbeit in den Briefen mit der empfundenen Distanz zusammen. Je größer diese war, desto emotionaler wurden die Texte verfasst. Die tatsächliche räumliche Entfernung war weniger entscheidend: „Auch Familienmitglieder, die nah beieinander lebten, sich aber nicht regelmäßig persönlich sahen, fühlten sich einander nicht mehr so nah“, so Willmann.
Was die Studentin besonders beeindruckte, waren Beschreibungen von Trauerfällen. „Mich bewegt, dass die Menschen alle sehr unterschiedlich trauerten und dass diese ehrliche Trauer für mich durch die Briefe spürbar war. Diese Emotionen sind zeitlos.“ Mehrere Monate hat sie mit den Döschers und den Dreyers mitgefühlt und mitgefiebert. Sie erfuhr, wie einige Familienmitglieder heirateten oder verstarben, während die Schicksale anderer unbekannt blieben. „Für mich ist es ein Geschenk, dass die Geschichte dieser Menschen nicht verloren gegangen ist und ich in diese vergangene Welt eintauchen durfte.“