Mit seiner Forschung hält es der Gesellschaft gewissermaßen den Spiegel vor: das Wissenschaftliche Zentrum „Genealogie der Gegenwart”. Amerikanist Martin Butler und Sportsoziologe Thomas Alkemeyer über Diagnosen, Narrative – und Erkenntnisse aus dem deutschen Basketball-Gold.
Wie wird unsere Wirklichkeit gemacht? Wie entsteht unsere Wahrnehmung von Phänomenen wie Klimawandel, Coronapandemie, Migration oder Digitalisierung, wie prägt diese Wahrnehmung wiederum die gesellschaftliche Realität – und warum kann sie zwischen unterschiedlichen Regionen, Bevölkerungsgruppen, Kulturen auch mal auseinanderklaffen? Diesen Fragen gehen seit zehn Jahren Oldenburger Forschende unterschiedlicher Disziplinen unter dem Dach des WiZeGG auf den Grund, des Wissenschaftlichen Zentrums für Genealogie der Gegenwart. Das Uni-Präsidium hat dessen Bestand kürzlich für weitere fünf Jahre festgeschrieben. An diesem Freitag feiert das WiZeGG ab 19.00 Uhr seinen Geburtstag mit einem Science Slam und anschließender Party im Polyester (Am Stadtmuseum 15). Der „Birthday Bash” ist zugleich der Abschluss der diesjährigen Oldenburg School for the Social Sciences and the Humanities.
Genealogie – was ist das eigentlich? „Erforschung menschlicher Gruppenbildungen“, steht kurz und knapp im Fremdwörterlexikon. Am WiZeGG bedeutet dies, gegenwärtige Verhältnisse nicht als Resultat einer linearen, also geradlinigen Entwicklung zu begreifen, sondern als Produkt zufälliger Begegnungen unterschiedlicher Elemente und Kräfte zu erforschen. Je nach Disziplin, dazugehöriger Perspektive und persönlichen Forschungsschwerpunkten fallen Analysen durchaus unterschiedlich aus, und davon profitiert wiederum die gemeinsame Arbeit, finden Direktor Prof. Dr. Martin Butler, Experte für amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft, und sein Vorgänger, Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Gründungsdirektor und Experte für die Soziologie der Praxis und des Sports.
„Wir docken an unterschiedliche theoretische Bezugspunkte an“, sagt Alkemeyer und verweist auf etwa kulturhistorisch, soziologisch, philosophisch oder medienwissenschaftlich geprägte Blickweisen auf die Gesellschaft. „Aber es gibt einen gemeinsamen Denkstil, der das Zentrum zusammenhält. Dieser genealogische Denkstil hebt nicht nur die Dynamik, Offenheit und Zufälligkeit gesellschaftlicher Prozesse hervor – also die Tatsache, dass Geschichte sich weder voraussehen noch im Voraus erklären lässt. Er zeichnet sich auch durch eine beständige Veränderung der Brennweite des Beobachtens aus.“ Das Wechselspiel zwischen dem mikrologischen Blick fürs Detail und dem Herauszoomen auf die Makro-Ebene größerer und längerfristiger Veränderungen sei zentral. „Dabei spielt die kulturelle Dimension eine wesentliche Rolle“, ergänzt Butler, „also die Frage, wie Gesellschaften sich selbst verstehen und thematisieren, welche Modelle und Vorstellungen sie davon haben, was Gesellschaft sein kann und sein sollte.“
Besonders bedeutend für den Blick moderner Gesellschaften auf sich selbst ist die sogenannte Gegenwartsdiagnose: Ob internationale Bildungsvergleiche oder Programme zur frühkindlichen Förderung, ob die Talentsichtung im Sport oder das Ableiten politischer Maßnahmen aus Statistiken zu Klimawandel oder Migration – ständig entwickeln oder nutzen Menschen in der Moderne diagnostische Verfahren, die ihnen helfen sollen, Probleme zu erfassen oder Potenziale zu erkennen, um zukunftsgerichtete Entscheidungen treffen zu können. Antizipierte Zukünfte bedingen dann bereits in der Gegenwart das politische und alltägliche Handeln. Diese gesellschaftsgestaltende Kraft von Diagnosen nehmen die WiZeGG-Forschenden bereits seit einigen Jahren und auch in einem eigens gegründeten Netzwerk mit Forschenden anderer Universitäten im In- und Ausland unter die Lupe. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das von Alkemeyer und Butler gemeinsam mit WiZeGG-Geschäftsführer Dr. Nikolaus Buschmann koordinierte Netzwerk noch bis Ende 2024. Aus der gemeinsamen Arbeit soll unter anderem ein Konzept für ein neues Verbundprojekt hervorgehen.
Stichwort Potenzial – das ist eines der Deutungsmuster, der sogenannten Narrative, „die unsere Wirklichkeitswahrnehmung seit einiger Zeit nachhaltig formen – mit ganz realen Effekten“, wie Alkemeyer erläutert. Ihn interessiert, aus welchen Gründen dieses Narrativ in die Welt kam und welche gesellschaftlichen Bezugsprobleme in seinem Rahmen verhandelt werden – beispielsweise „Probleme der Ressourcenknappheit, die zu der Vorstellung führen, man müsse alle möglichen Talente, etwa in Sport und Wissenschaft, ausfindig machen und ihre Potenziale effektiv ausschöpfen, um für eine ungewisse Zukunft gewappnet zu sein“. Und dieses Narrativ habe höchst reale Konsequenzen: „Da werden ganze Fördersysteme umgebaut, im Spitzensport lässt sich das wunderbar beobachten“, so Alkemeyer.
So seien weniger in der Vergangenheit erbrachte Leistungen als vielmehr das angebliche Potenzial maßgeblich für die Mittelvergabe geworden. Dass solche potenzialorientierten Diagnosesysteme nicht immer greifen, habe jüngst etwa das Abschneiden der deutschen Basketballer und des deutschen Leichtathletikteams bei den jeweiligen Weltmeisterschaften gezeigt: „Im deutschen Potenzialanalysesystem wurde der Basketball jüngst in die unterste Kategorie – mit dem vermeintlich geringsten Potenzial – eingeordnet, die Leichtathletik hingegen ganz oben.“ Am Ende gewann die Basketball-Nationalmannschaft Gold, und in der Leichtathletik gab es keine einzige WM-Medaille. Nun soll das Bewertungssystem erneut „reformiert“ werden.
Als ein weiteres Beispiel haben die WiZeGG-Forschenden „die sogenannte Migrationskrise“ ausgemacht. Das zu dieser Diagnose gehörende Narrativ sei eines der Bedrohung, hervorgerufen etwa durch die Bilder tausender auf der italienischen Insel Lampedusa anlandenden Geflüchteten. „Mit der Konsequenz, dass sich nun Grenzkontrollen auch innerhalb Europas konkretisieren und die Politik über Aufnahme-Obergrenzen diskutiert.“ Wie zum Beispiel die Medien „Migration erzählen“, welche visuellen und sprachlichen Bilder dabei von wem eingesetzt werden, ist dabei eine Frage, die Butler insbesondere umtreibt: „Es macht eben einen Unterschied, ob von einer ‚Flüchtlingswelle‘ oder von ‚geflüchteten Menschen‘ gesprochen wird.“
Daher hat etwa Butler es auch zum Prinzip seiner Lehre gemacht, „eine kritisch-reflexive Haltung zu vermitteln, die die Studierenden in die Lage versetzt, die Mechanismen der Herstellung von Wirklichkeit zu erkennen. Und insbesondere die Lehrkräfte, die wir ausbilden, können ja Multiplikatoren einer solchen Haltung sein“, betont er. Zugleich, ergänzt Alkemeyer, könne eine reflexive Haltung auch in Bezug auf die eigene Disziplin womöglich „größere Offenheit und Toleranz gegenüber verschiedenen Sichtweisen erzeugen. Wenn Menschen begreifen, dass die eigene Sichtweise durchaus auf kontingenten, also zufälligen Konstellationen beruht, bestehen größere Chancen, dass sie auch mit anderen Blickwinkeln gelassener umgehen.“ Unverzichtbar sei dabei allerdings das Anerkennen von Fakten als Ankerpunkten im Realen, unterstreicht Alkemeyer im Hinblick auf Fake News und Verschwörungserzählungen.
Wie und aus welchen Gründen sich aber welche Narrative – oder deren Gegennarrative – wo durchsetzen, und warum manche Diagnosen stärker in den Vordergrund treten als andere: Auch auf diese Fragen wollen die WiZeGG-Forschenden künftig Antworten suchen. Wer sich für die Arbeit des Zentrums interessiert, ist ab November wieder herzlich zum Forschungskolloquium des WiZeGG eingeladen, zweiwöchentlich mittwochs um 18.15 Uhr. Die genauen Termine und den Ort gibt das Zentrum rechtzeitig auf seiner Website bekannt.