Verschiedene Studien, zuletzt die sogenannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, zeigen: Rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung nehmen zu, das Vertrauen in die Demokratie scheint fragil. Im Interview spricht Politikdidaktiker Tonio Oeftering über Demokratie als Lebensform und wann sich Hochschulen gesellschaftspolitisch positionieren sollten.
Herr Oeftering, wie vermitteln wir den Wert von Demokratie?
Wir brauchen mehr Aufklärung und müssen das Demokratieverständnis schärfen. Denn Demokratie müssen wir lernen und zwar lebenslang. Gleichzeitig lässt sich Demokratie nicht nur abstrakt lehren und lernen. Wenn ich konkret im Leben feststelle: Ich kann mich engagieren oder jemand tut etwas für mich, dann erfahre ich, dass ich etwas bewirken kann. Dann erlebe ich Demokratie.
Demokratie ist eine Herrschaftsform…
Aber auch eine Lebens- und Gesellschaftsform. Wir brauchen personale und soziale Kompetenzen wie Empathie, Affektkontrolle, Urteilsfähigkeit, Perspektivwechsel oder Ambiguitätstoleranz – also die Fähigkeit, Unsicherheiten oder Ungewissheiten auszuhalten. Nur so können wir in einer demokratischen Gesellschaft zusammenleben. Leider mangelt es manchen an diesen Fähigkeiten. Auf gesellschaftlicher Ebene muss Demokratie zudem erfahrbei sein – in Schulen, in Organisationen oder Unternehmen. Auch hier gibt es Nachholbedarf. Wenn etwa Schüler*innen mitbestimmen können, wie ihr Schulhof gestaltet wird, dann machen diese vielleicht die Erfahrung, dass Probleme nicht einfach zu lösen sind, dass es langwierig und schwierig ist, sich zu einigen. Am Ende aber steht ein Ergebnis, eine Entscheidung, die von einer Mehrheit getragen wird.
Gehört Streit zum politischen Diskurs?
Unbedingt. Er ist zwar zeitaufwändig, aber ohne ihn geht es nicht. Die Frage ist, wie solche Konflikte ausgetragen werden und was am Ende dabei herauskommt. Gerade diejenigen, die in politischen Ämtern tätig sind, müssen Demokratie auf allen Ebenen mit Leben füllen. Und letztlich muss sich Demokratie durch gutes Handeln selbst beweisen. Wenn wir also Demokratie als politisches Herrschaftssystem, unsere Institutionen von der Kommunalebene bis zum Bundestag, betrachten, dann müsste beispielsweise ein Ergebnis von Politik sein, dass eine fortschreitende gesellschaftliche Teilung zwischen Arm und Reich glaubhaft angegangen wird. Sonst wenden sich Menschen aus Enttäuschung von der Demokratie ab und rufen nach der – vermeintlich – starken Person, damit das Gezänk aufhört. Dieser Herausforderung muss sich die Politik stellen. Dazu gehört auch, die Komplexität der Probleme deutlich zu machen. Eine schwierige Aufgabe für die Politik – und die Politische Bildung.
Das Verständnis für politische Prozesse und die Demokratie zu fördern, ist unter anderem die Aufgabe der Landes- und Bundeszentralen für Politische Bildung. Wie wichtig ist diese Arbeit – gerade vor dem Hintergrund, dass antidemokratische Haltungen zunehmen?
Sehr wichtig. Der Ansatz der Bundeszentrale und der Landeszentralen, ist es ja gerade, zu informieren, Demokratie erlebbar zu machen und persönliche Begegnungen zu ermöglichen, auch für Erwachsene. Das ist wichtig, denn mit schulischer Bildung erreichen wir Erwachsene, die rechtsextreme Einstellungen teilen, aber dem Diskurs gegenüber noch nicht ganz verschlossen sind, nicht mehr. Zudem können außerschulische Angebote die schulischen sinnvoll ergänzen – auch weil sie einer anderen Logik folgen, beispielsweise freiwillig sind. Insofern ist es ein fatales Signal, wenn, wie derzeit geplant, die Mittel für die Bundeszentrale gekürzt werden.
Niedersachsen hatte als einziges Bundesland einige Jahre lang gar keine Landeszentrale für politische Bildung, erst 2017 wurde diese neu gegründet. Sie haben die Arbeit dort evaluiert. Was sind die wichtigsten Punkte?
Das Besondere an der Niedersächsischen Landeszentrale ist, dass sie vor allem digitale Angebote macht. Beispielsweise gibt es eine App, mit der man lernt, wie man sich Stammtischparolen widersetzt. Diese Arbeit des Teams haben wir positiv evaluiert. Allerdings stößt die Digitalisierungsstrategie auch an ihre Grenzen, denn nicht alle Zielgruppen erreicht man mit digitalen Formaten. Zudem hat die Landeszentrale in Hannover keine öffentlich zugänglichen Räume – ein großer Nachteil, da politische Bildung, wie gesagt, vor allem von persönlicher Begegnung lebt.
Kommen wir noch einmal auf die Demokratie als Lebensform zurück. Was kann ich als einzelne Person bewirken – etwa bei persönlichen Begegnungen?
Demokratie als Lebensform heißt auch, im Alltag Zivilcourage zu zeigen und sich antidemokratischen Tendenzen entgegenzustellen – natürlich, ohne sich in Gefahr zu bringen. Denn die Normalisierung rechten Denkens bis hinein in die Mitte der Gesellschaft ist ein zentrales Problem. Wenn wir die Demokratie wahren und besser machen wollen, dann müssen alle deutlich machen, dass es Entwicklungen gibt, die wir nicht wollen. Nicht zuletzt die Wiedervereinigung, die wir am 3. Oktober feiern, zeigt, wie wertvoll die Demokratie ist angesichts der Diktaturerfahrung im Osten Deutschlands. Diejenigen, die Politik machen, dürfen die Verantwortung aber nicht an die Bürger*innen abwälzen. Sie müssen etwa die sozioökonomische Spaltung überwinden und, auf einer anderen Ebene, ebenso wie wir alle, Konflikte austragen, Perspektiven wechseln oder Widersprüche aushalten können.
Welche Rolle spielen Hochschulen vor diesem Hintergrund?
Universitäten sind ein Diskursraum, in dem unterschiedliche Ansichten vorkommen – immer unter der Prämisse, die Wahrheit zu suchen. Eine gesellschaftspolitische Positionierung ist aus meiner Sicht vor allem dann wichtig, wenn es um die Grundlagen der Hochschulbildung geht. Denn Hochschulen sind schnell Opfer von Antidemokratisierungsprozessen – autoritäre Regime haben kein Interesse an freien Hochschulen. Universitäten müssen sich daher als Teil von Demokratie begreifen und auch für Demokratie einstehen.
Interview: Constanze Böttcher